Wieder so eine Geschichte, bei der man sich fragen muss: ist das Moral oder kann das weg? Ist das Wohl des Einzelnen wichtiger als das der Gesellschaft oder ist das Funktionieren des Staates das Wichtigste, koste es, was es wolle? Heiligt der Zweck tatsächlich jedes Mittel?
2017, Acryl/Öl/Gouache auf Holz, 119 x 60cm.
Erneut muss ich den Angstgegner des „Abituriens Communis Bavaricus“, des „durchschnittlichen bayerischen Abiturienten“ bemühen: Titus Livius, um 59 v.Chr. in Padua geboren und dort um 17 n.Chr. gestorben, den Verfasser des 142 Bücher umfassenden Geschichtswerks „Ab Urbe Condita“, in welchem die Geschichte Roms von der Gründung der Stadt durch Romulus im Jahr 753 v. Chr. bis hin zur Großmacht der Antike unter Kaiser Augustus aufgeschrieben ist.
Da gibt es einen römischen Kommandierenden General, nein, eigentlich sogar noch viel mehr: einen amtierenden Konsul, der sich als kommandierender Feldherr im Krieg mit den Etruskern befindet. (Man wird nachvollziehen können, dass die im Latium seit Jahrhunderten alteingesessenen Latiner, Etrusker, Umbrer und so weiter keineswegs begeistert waren, dass sich in ihrem Kernland eine neugegründete Stadt voller Haudegen namens Rom festgebissen hatte und mit der Zeit immer mächtiger und stärker zu werden drohte. Lange Jahre brachte das kriegerische Konflikte quasi vor der Haustür Roms mit sich.)
Dieser Konsul Titus Manlius Torquatus, der Befehlshaber in dieser kriegerischen Angelegenheit, hatte sein Heer gegen die angreifenden und wegen ihres alten Landadels auch ziemlich arroganten Etrusker in Stellung gebracht und einen Schlachtplan ausgearbeitet, um aus dieser Geschichte mit sehr großer Wahrscheinlichkeit als Sieger hervorzugehen. Das kann man ihm nicht verübeln, denn das war der Auftrag, den der Senat der Stadt Rom ihm mitgegeben hatte.
Einer seiner Offiziere und Chef einer Reiterabteilung war sein eigener Sohn, mit Namen ebenfalls Titus Manlius, aber ohne den Ehrennamen Torquatus. Jung-Titus war gewiss ein guter Kerl: mutig, ehrlich, voller Patriotismus, ganz heiß darauf, sich im Kampf fürs Vaterland beweisen zu können und immer voller Tatendrang. Der Konsul musste ganz einfach stolz sein auf seinen Prachtkerl von Sohn, auch wenn er offenbar immer noch ein jugendlicher Heißsporn war, der in der permanenten Ausschüttung seiner in jeder Hinsicht überbordenden Hormone gern übers Ziel hinausschoss, aber – ganz ehrlich, wer kann das nicht verstehen und müsste sowas eigentlich eher milde und altersweise belächeln?!
Der Alte hatte ganz klar die Parole ausgegeben: alle bleiben geordnet in ihren Stellungen, keiner unternimmt irgendwelche Scharmützel auf eigene Faust, der Angriff der Etrusker wird geordnet abgewartet und dann ebenso präzise und treffsicher zurück geschlagen.
Und jetzt taucht da da hinterm Busch plötzlich so ein etruskischer, parfümierter, arroganter, selbstgerechter Jüngling zu Pferde auf, hat auch noch eine Handvoll seiner reichen Freunde dabei und auch die allesamt ebenfalls lauter arrogante, blasierte, parfümierte, von-Beruf-Sohn-stinkreiche etruskische Rotzlöffel mit ihren Jugendreitabzeichen und nun fängt dieses etruskische Großmaul doch tatsächlich an, Jung-Titus, der gerade mit einem Teil seiner Kompanie auftragsgemäß als Erkundungstrupp vor der eigenen Stellungslinie unterwegs ist, blöd anzumachen, so in der Art „willst-du-paar-aufs-Maul-oder-was-krass-Alder-ich-schwör?!“
Zunächst lässt sich Jung-Titus von den Frozzeleien des Geminus Maecius, so der Name des etruskischen Pfaus, tatsächlich nicht provozieren und bleibt cool. Als der ihm aber klar macht, dass er, Maecius, weitaus tapferer ist als jeder sogenannte römische „Ritter“ und ihm damit Feigheit unterstellt, wenn er sich dem Zweikampf nicht stellen will, gehen Titus letztlich seine Hormone und der jugendliche Jähzorn doch durch und er lässt sich zu dem vom Chef ausdrücklich verbotenen Zweikampf jenseits der Front hinreißen.
Es kommt nicht, wie es kommen muss oder wie man es vielleicht erwartet. Der erste Höhepunkt des aristotelischen Dramas, die Peripetie naht und Livius beweist erneut seine literarischen Fähigkeiten, die jeden Lateinschüler an dieser Stelle zum Wahnsinn treiben, denn letztlich ist die Passage mit normalen Worten nicht mehr übersetzbar und fast jede Übersetzung wird dem, was da geschrieben wurde, wenn man textnah bleiben möchte, bei weitem nicht gerecht. Was seit Theodore Ziolkowskis Analyse des Sprachstils von James Joyce als „stream of consciousness“ bezeichnet wird (obwohl wir das Phänomen bereits bei Arthur Schnitzlers Leutnant Gustl in dessen Figurenrede vorfinden), präsentiert Livius hier als ein Gewitter aus explodierenden, expressionistischen Einzelbildern, die einerseits das Tempo und das Fieber des Kampfgeschehens allegorisieren und andererseits auch die ausweglos nahende Katastrophe ankündigen: Jung-Titus besiegt tatsächlich ein wenig überraschend mit der Kraft seines heiligen Zorns den Provokateur und durchbohrt ihn mit seinem Schwert.
Wer nun glaubt, dass der Junge mit dem Siegerkranz des Konsuls für seine mutige Tat und sein mutiges Statement im Angesicht der etruskischen Reiter geehrt wird, der irrt. Der Vater stellt fest, dass bei dem Vorfall ein Einzelner seine Selbstsucht und Eitelkeit über das Wohl des Staates und seine Anordnungen gestellt hat. Der Einzelne ist nur aber so viel Wert, wie er in seiner strukturellen Funktion für die Gesellschaft seine geforderte Leistung erbringt und die Ordnung durch Eigenmächtigkeiten nicht missachtet oder gar substanziell in Frage stellt.
Livius lässt den Vater das gesamte befehligte Heer antreten und verkünden:
„Weil du ja nun, Titus Manlius, weder irgendeinem Befehl folgst noch Scheu vor der väterlichen Würde hast, weil du gegen unsere Verordnung außerhalb der Schlachtreihe gegen den Feind gekämpft hast, und du dich – soviel lag in deiner eigenen Verantwortung – von der militärischen Disziplin, durch die bis zu diesem Tag der römische Staat auf festen Füßen stand, gelöst und mich in die Notwendigkeit gebracht hast, entweder den Staat oder die Meinen vergessen zu müssen, so sollen besser wir für unsere Vergehen bestraft werden als dass der Staat mit einem immensen Schaden für unsere Sünden büßen soll. Wir werden ein trauriges, aber für die Nachkommen und für die Jugend heilsames Beispiel sein. Zwar bewegt mich , was dich betrifft, einerseits schon die angeborene Liebe zu meinen Kindern, andererseits aber auch dieser enttäuschende Beweis deines Verlustes an Anstand mit dem leeren, eitlen Bild deiner Kriegsbeute, weil aber entweder durch deinen Tod die Befehle der Konsuln bekräftigt oder durch deine Straflosigkeit für immer zunichte gemacht werden müssen – und ich bin mir sehr sicher, dass du, falls in dir auch nur ein Tropfen unseres Blutes steckt, meine Entscheidung niemals zurückweisen wirst – muss nun die militärische Disziplin, welche durch deine Schuld entglitten ist, durch deine Bestrafung wiederhergestellt werden – geh, Liktor und binde ihn an den Pfahl.“ Alle, die das hörten, brachte der schreckliche Befehl aus der Fassung, und als sie, jeder für sich, das gezückte Beil erblickten, verharrten sie schweigend mehr aus Furcht als aus Fügsamkeit. In stummer Bewunderung also standen sie niedergeschlagen da, in Lautlosigkeit erstarrt, und brachen plötzlich, nachdem das vergossene Blut des Jungen aus seinem zerhackten Nacken herausrann, mit ihren Stimmen in so freier Wehklage los, dass weder an Jammer noch an Beteuerungen gespart wurde, und der Körper des Jünglings durch die Rüstung bedeckt wurde wie man ein Begräbnis mit militärischen Ehren nur feiern kann, und er wurde auf einem außerhalb des Walles errichteten Scheiterhaufen verbrannt und die Manilischen Befehle waren nicht nur in der Gegenwart abschreckend sondern auch ein trauriges Beispiel für die Nachkommenden.
Titus Livius, Ab Urbe Condita, Achtes Buch, Kapitel 7, auf The Latin Library (Externer Link)