Einarmige Banditen und Apfelkerne.
Ästhetik und guter Geschmack.
Die Arroganz des Besserseinwollens.

Einen Euphemismus (auf deutsch: Hüllwort) findet man als Stilmittel überraschend oft. Er soll einen Gegenstand, eine Person, einen Sachverhalt oder eine Aussage umschreiben, und das ausschließlich beschönigend oder abmildernd. Die sprachliche Verhüllung des als negativ empfundenen Begriffs zeigt so auf elegante Weise die an sich unangenehme Wahrheit in freundlichem und positivem Licht. Euphemismen findet man deshalb nicht nur in der Literatur, sondern sehr häufig auch im Alltag („stilles Örtchen“ statt „Klo“), besonders gern in der Werbung („das Frühstückchen“ statt „Schokoschnitte mit viel zu viel Zucker und Fett“) und Wirtschaft („das Einsteigermodell“ statt „überteuerte Billigausführung für arme Angeber mit überaus beschränktem Funktionsumfang“) und in der Politik sowieso („Beitragsanpassung“ statt „Beitragserhöhung“), wo uns ja ohnehin regelmäßig unangenehme Verschlimmerungen als sensationelle Fortschritte verkauft werden. Ein vorläufiger Höhepunkt in diesem Zusammenhang ist übrigens die Berliner „Clan-Kriminalität“, die man dort inzwischen rücksichtsvoll als „familienbasierte Kriminalität“ bezeichnet. Dass man Kriminalität dort überhaupt noch als solche bezeichnet, erstaunt mich eigentlich. „Deviantes Verhalten von strafrechtlicher Relevanz“ wäre doch irgendwie viel berlinerisch-verständnisvoller…

Leider gerät man mit seinen Euphemismen unweigerlich früher oder später in eine Tretmühle. Denn die Dinge, die man jetzt mit einem verschleierten Begriff benennt, weil man aus irgendeinem Grund besonders feinfühlig, rücksichtsvoll oder abgeklärt daherkommen möchte, werden dadurch in den Köpfen der Leute ja nicht plötzlich qualitativ aufgewertet. So schlägt früher oder später die sprachwissenschaftlich als Pejorativ bezeichnete Keule zu, und das neue, schöne Wort konnotiert sich langsam und unmerklich ebenfalls genauso negativ wie das ursprüngliche Wort, das man ja, weil man so vornehm, empathisch, liberal, verständnisvoll und so weiter sein will, nicht mehr benutzen mochte. Der Gehörlose ist dabei am Ende immer noch kein glücklicherer Mensch als ein Taubstummer, und auch der Drogenabhängige ist kein bisschen besser dran als ein Rauschgiftsüchtiger. Deswegen macht man sie politisch korrekt zu Menschen mit unzulänglicher Hörfähigkeit oder Konsumenten von abhängig machenden Substanzen. Oder libanesische Schwerverbrecher zu Leuten mit deviantem Verhalten von strafrechtlicher Relevanz. Und hofft, dass das gutgeht. Wenigstens eine Zeitlang.

Sehen wir uns etwas genauer die Gestalten an, die mein Großvater regelmäßig als „vollkommene Idioten“ bezeichnete, wenn er von seinen Lehrlingen (Verzeihung: Auszubildenden) sprach, die schon in der Schule nicht übermäßig viel Hirn bewiesen und aus der Schule noch viel weniger davon in die Lehre mitgebracht hatten und sich danach bei den banalsten Tätigkeiten anstellten wie der letzte Depp. Solche Menschen mit geringen oder gar fehlenden Bildungsabschlüssen wurden dann später neuzeitlich-euphemistisch als „bildungsfern“ bezeichnet, weil man eben nicht mehr „ungebildet“ oder „dumm“ sagen mochte. Inzwischen lächelt man über „bildungsfern“, weil jeder weiß, dass damit diese vollkommenen Idioten gemeint sind. In den Gedanken der Leute sind diese Dummköpfe ja weiterhin Idioten geblieben, nur gesagt hat man halt plötzlich etwas anderes. Deshalb riecht dieses „bildungsfern“ mittlerweile auch schon wieder ziemlich streng und die Euphemismusgläubigen mussten sich etwas Neues ausdenken: der einstige „vollkommene Idiot“ ist daher heute eine „vom Bildungswesen nicht erreichte Person“. Nach außen hin. Innerlich ist er bei den Leuten nach wie vor der Idiot, und privatissime wird er unter Stammtischkollegen auch nach wie vor als ein solcher bezeichnet.

Mit den früheren Mohrenköpfen (französisch: tête-de-nègre) war die Sache ähnlich. Die wurden zwar zunächst noch zum Negerkuss befördert, weil in der französischen Variante genau wie in der deutschen Füllung Baisermasse vorhanden ist (le baiser = der Kuss), wurden dann aber auf deutsch wegen des Negers (im Französischen blieb es beim nègre) schnell zum Schokokuss befördert, woraufhin ihnen genau das aber kurz darauf höchstrichterlich verboten wurde. Denn sie waren leider nicht mit flüssiger Schokolade, sondern nur mit Fettglasur überzogen. Seitdem gelten sie als „Schaumküsse mit Schokoüberzug“. Ein Schokoüberzug hat juristisch eben nichts mit Schokolade zu tun. Schon wieder ein Euphemismus: mit Kakaopulver eingefärbtes ungesundes Palmfett voller doppelt und dreifach gesättigter Fettsäuren, Sojapulver und billigstem Zucker wird als Schokoüberzug geadelt. In den Niederlanden übrigens heißen die Dinger bis heute Negerzoenen – weil das Wort Neger im Holländischen tatsächlich überhaupt keinen negativen Beigeschmack besitzt und daher auch keiner Verschönerung bedarf. In Flandern – dem ebenfalls holländisch sprechenden Teil Belgiens – ist das genauso. Dort nennt man sie Negertetten.

Mir persönlich gefällt „Mohrenkopf“ eigentlich recht gut, und ich bin auch bis heute niemals auf die Idee gekommen, diese süße Kalorienbombe in irgendeiner Form inhaltlich mit einem Bewohner Schwarzafrikas in Verbindung zu bringen. Ich hege auch nicht die Absicht, schwarzhäutige Menschen mit dieser Bezeichnung rassistisch zu beleidigen. Wenn ich das wollte, gäbe es für derartige Vorhaben wohl deutlich bessere Munition. Bei meinem Bäcker im Dorfladen sage ich trotzdem nicht „vier Schaumküsse mit Schokoüberzug bitte“, weil mich sonst die Bäckersfrau für einen vollkommenen Idioten halten würde. Ich deute vielmehr auf die Vitrine und sage „vier von diesen Schokodingern, du weißt schon!“ Und dann sagt sie: „Mohrenköpf‘!“ Aber so hab’s wenigstens ich nicht gesagt.

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Oh mein Gott! Sowas hängt sich doch keiner auf, der bei Verstand ist.

Ach was! In manchen Museen hängt noch viel scheußlicheres Zeug.

Nee. So scheußlich nicht.

Doch.

Aber in seiner eigenen Wohnung hängt sich das keiner auf.

Soll ja auch nicht. Wer sagt, dass ich das Bild überhaupt weggebe?

Wär echt besser so. Ich würds jedenfalls verstecken und keinem zeigen.

Kunst muss weh tun.

Sagt wer?

Herta Müller zum Beispiel.

Die hat das aber anders gemeint!

Wo steht, dass man kluge Worte nur buchen darf, wenns um rumänischen Stalinismus geht?

Lenk nicht ab. Der Rechte sieht aus, als hätte man ihm die Kehle durchgeschnitten. Und der Arm ist auch verkümmert oder abgehackt oder sonstwie… Das ist doch grauslig.

Da gehts dem Linken besser.

Weil der winkt?

Blödsinn. Der winkt doch nicht!

Was macht der dann?

Der ruft den Kellner.

Warum?

Will einen Apfel.

Wozu?

Weil er die Apfelkerne rauspulen will.

Weshalb?

Ein Apfelkern ist dunkel und spitz und stechend, und er ist bitter.

Und?

Sagt auch Herta Müller.

Und was hat das mit den zwei schrecklichen Kerlen in diesem schwarzen Loch zu tun?

So schwarz ist das da drin gar nicht. Da ist auch Siena dabei. Und Indigo. Und gebranntes Umbra. Sogar Paynes Grau. Das ist ziemlich teuer!

Ist trotzdem schwarz.

Aber nicht ganz. Untenrum isses sogar ziemlich hell.

Warum?

Vielleicht stehen die in einem Club auf einer beleuchteten Tanzfläche.

Mit durchgeschnittener Kehle und abbem Arm?!

Ist ja nicht ganz durchgeschnitten. Sonst würde der nicht mehr stehen. Und man sagt nicht abber Arm.

Wie sagt man denn?

Abgehackt. Abgebissen. Abgeschlagen. Abgeschnitten. Abgetrennt. Abgerissen. Abgedreht. Abgesägt. Abgefault. Was weiß ich.

Aber er ist doch ab?!

Nicht ganz. Ein Teil ist ab.

Also ist das ein abber Arm. Teilweise.

Teilweise. Vielleicht.

Wie will der denn überhaupt die Apfelkerne rauspulen? Mit nur einem Arm.

Das ist ja das Problem. Scheint sogar recht frisch zu sein, der Zustand.

Eklig.

So ist das Leben.

Meins nicht. Ich hab noch beide Arme. Und ich kenne keine Clubs mit beleuchteter Tanzfläche.

Dann musst du nach Berlin gehen. Dort gibts die.

Und es gibt auch keine Clubs, wo Leute mit abbem Arm rumstehen.

Pff, Träumer! Und wies die gibt! Du hast echt keinen Plan.

Quatsch. Wo soll das sein?

Auch Berlin natürlich. Da gibts noch ganz andere Clubs. Und ziemlich dunkel. Viel dunkler als der da. So dunkel, da siehst du den abben Arm überhaupt nicht. Eigentlich siehst du überhaupt nichts. Da musst du tasten.

Ich möchte aber gar nicht tasten müssen. Nicht nach abben Armen und nicht nach sonstwas.

Musst du ja auch nicht. Aber es gibt Leute, die sagen, das ist gut für die Phantasie.

Dann muss ich da bestimmt nicht hin. Mein bisschen Phantasie reicht mir völlig.

Gibt ja auch noch andere Sachen dort. Sogar schöne.

Warum malst du dann nicht die, sondern sowas?

Was?

Die schönen Sachen.

Zu langweilig.

Warum?

Weil du dich dann höchstens wohl fühlst beim Anschauen.

Ist doch toll.

Nein. Du sollst in die Apfelkerne beißen.

Warum?

Du bist sowieso schon viel zu träge Du willst gar nix mehr verändern in deinem Leben.

Was soll ich verändern? Mir gehts gut.

Da gäbs eine ganze Menge zu verändern. Musst ja nicht gleich im Dunkeln nach abben Armstümpfen tasten.

Was dann?

Auch mal den Hintern heben. Oder mal über den Tellerrand rausgucken.

Um dann Leute mit abbem Arm zu entdecken?

Zum Beispiel.

Wozu?

Vielleicht, um zu helfen?

Helfen? Was soll ich da noch helfen? Dem ist nicht mehr zu helfen. Der Arm ist ja schon ab.

Aber er braucht jemanden, der ihm die Apfelkerne rauspult.

Warum?

Vielleicht will er schmecken, wie bitter die sind und wie spitz. Und wie hart.

Reicht dem sein Zustand denn noch nicht? Muss er da auch noch Bitterstoffe und Glassplitter zu sich nehmen?

In Äpfeln gibts keine Glassplitter.

Aber so gut wie. Spitz und hart sind sie ja, hast du gesagt.

Die Äpfel?

Die Apfelkerne. Und ich hab allerdings keine Lust, sowas im Dunkeln rauszupulen und Leuten mit abbem Arm in den Mund zu schieben.

Du hast keine Lust, Krüppeln überhaupt irgendwas sonstwohin zu schieben oder ihnen hinterher die Nase zu putzen.

Stimmt. Man sagt aber nicht Krüppel.

What? Was dann?

Mensch mit Behinderung.

Also Behinderter?

Nein. Das ist genauso diskriminierend.

Was? Das Wort?

Ja.

Der Zustand bleibt aber. Der Arm ist ab, egal ob man den Kerl als behindert bezeichnet oder nicht.

Du liebe Güte! Behindert in Form vom Adjektiv, das geht ja auf gar keinen Fall.

Warum?

Die Sozialgerichte wollen das nun mal nicht.

Bloß das Wort oder auch den Zustand?

Die sagen dort: Mensch mit alternativen Fähigkeiten oder Mensch mit Funktionsbeeinträchtigung. Die wollen das Adjektiv nicht.

Warum nicht?

Weils so schöner klingt.

Findest du? Der Einarmige ist doch kein schlechterer Bursche, nur weil man sagt: er ist behindert. Gehts dem denn besser, wenn man sagt: hallo, ich seh schon, du bist funktionsbeeinträchtigt! Aber sonst alles frisch, oder?

Man verwendet überhaupt keine Adjektive, sagen die Sozialgerichte. Das ist diskriminierend.

Warum?

Man besteht dann nur noch aus fehlender Eigenschaft. Nix weiter. Man ist dann bloß noch wehrlos.

Ein Einarmiger ist aber weitgehend wehrlos. Der braucht sogar Hilfe beim Apfelkernepulen.

Trotzdem haut man ihm seine fehlende Eigenschaft nicht als Adjektiv um die Ohren, wenn man ihn damit hilflos macht und seine Funktion abschaltet.

Ich hab ihm den Arm doch nicht abgehauen, bloß wenn ich feststelle, dass der behindert ist.

Du hast ihm den Arm abgemalt!

Nein. Ich hab ihn erst gar nicht hingemalt.

Das ist dasselbe.

Sicher nicht. Was ich nicht gemalt hab war vorher gar nicht da.

Dann ist das kein abber Arm?

Nein. Das ist ein wegger Arm. Weg. Nicht ab.

Und warum machst du sowas? Sowas hängt sich doch kein Mensch auf!

Ach was! In manchen Museen hängt noch viel scheußlicheres Zeug!

Nee. So scheußlich nicht.

Cringe.

 

Zur Pejoration von Euphemismen siehe den Artikel
„Euphemismus-Tretmühle“ auf Wikipedia (externer Link)

Eine Auswahl an Artikeln zur Adressierung von Menschen mit Behinderungen:
„Behinderung beim Namen nennen!“ auf dieneuenorm.de (externer Link)
„Begriffe über Behinderung von A bis Z“ auf Leidmedien.de (externer Link)
„Ungenaue Sprache hilft niemandem“ auf raul.de (externer Link)
„Behindert werden, behindert sein.“ auf robotinabox.de (externer Link)

Herta Müller: „Mein Vaterland war ein Apfelkern“
Carl Hanser Verlag München (2014) ISBN 9783446246638
Details zum Buch auf der Webseite des Verlags (externer Link)
Autoreninformationen auf der Webseite des Verlags (externer Link)
Buchbesprechung auf literaturkritik.de (externer Link)
Artikel zu Herta Müller auf Wikipedia (externer Link)

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