Ist der Kreislauf der Verfassungen nach Polybios auch ein Modell für die vier Zeitalter der Menschen, wie Ovid sie beschrieben hat? Oder ist das Ganze ein irreversibler, trostloser, apokalyptischer Prozess stetigen Zerfalls des Wertvollen ins Wertelose? Bei den antiken Philosophen gab es schließlich im Gegensatz zum kokettierenden Zweck-Pessimismus der Literatur und Poesie durchaus eine Vorstellung davon, dass sich die Weltalter nacheinander in Zyklen wiederholen. Anaximenes, Anaximander, Heraklit, Platon und Aristarch von Samos (in chronologischer Reihenfolge) berichten von wiederkehrenden Zerstörungen der Welt, von periodischen Weltenbränden, nach denen die Welt in neu entstehenden Zeitaltern immer wieder aufs neue geformt wird. Das hat doch etwas Trostbringendes.

2021, Öl und Gouache auf Holz, überzogen mit Schlagmetall und Blattgold, mit Spatel berieben, teilweise oxidiert, 60 x 120 cm; in Ebenholzrahmen installiert; rückseitig betitelt, datiert und signiert (in Privatbesitz)
Goldene Zeiten oder Der Fluch der Jungfrau
Goldene Zeiten oder: Der Fluch der Jungfrau
Goldene Zeiten oder Der Fluch der Jungfrau
Der Fluch der Jungfrau (2017) vor der Überarbeitung (2021)

Ovid? Den kennen wir ja schon!

Publius Ovidius Naso wurde im heutigen Sulmona in den Abruzzen, sozusagen an der Wade des italienischen Stiefels geboren – sogar der Tag ist bekannt: der 20. März 43 v.Chr. Beim Sterbedatum geht die Klarheit dann verloren: irgendwann um das Jahr 17 n.Chr. muss es passiert sein, irgendwo am Schwarzen Meer, vermutlich in Tomis, ungefähr dort, wo man heute das rumänische Konstanza findet.

Immerhin zählt Ovid zusammen mit den etwas älteren Herren Vergil und Horaz zu den drei wichtigsten Dichtern der Römischen Klassik. Trotzdem kennen wir die meisten seiner biografischen Daten lediglich aus seinen eigenen, im Exil verfassten Tristia. Keiner der bekannten und berühmten Geschichtsschreiber hielt es offenbar für nötig, ein paar Worte über Ovid zu verlieren. Kein Titus Livius, schon allein wegen seines Mammutwerkes Ab Urbe Condita unsterblich, kein Sueton, obwohl gerade dem mit seinem Erzählstil der anekdotischen Geschichtsschreibung zu Ovid eine ganze Menge hätte einfallen müssen. Man denke nur an die genüsslich ausgebreiteten Schlafzimmer-Histörchen in seinem De Vita Caesarum. Das Ganze wird umso amüsanter, wenn man sich klar macht, dass der gute Sueton in keinem dieser Schlafzimmer persönlich anwesend war: das war echte Regenbogenpresse. Der brave, erbsenzählende Tacitus „sine ira et studio“ sah erst recht keine Veranlassung, er, der in seiner humorlosen Gewissheit, ein Leben lang grundsätzlich und ausschließlich nur bewiesene Wahrheiten aufgeschrieben zu haben, bis zu seinem Ende überhaupt nicht erahnte, wie viel Unsinn er verfasst hatte und wie vielen seiner „Quellen“ er auf den Leim gegangen war…

Ovid war der erste Blogger der Geschichte. Er war mit seiner zwischen 1 und 4 n.Chr. veröffentlichten insgesamt dreibändigen Ars Amatoria („Liebeskunst“) besonders bei der Jugend bekannt und beliebt, weil er mit diesem Werk totgeschwiegene Themen wie „Wo kann ich ein Mädchen aufreißen?“ oder „Wie baggere ich richtig an?“, „Wie kriege ich sie garantiert rum?“ und „Wie steche ich Nebenbuhler aus?“ zur Sprache brachte und so für eine schüchterne und pubertierende, gleichwohl sozial inkompetente junge Generation die erste Sexualsprechstunde der Geschichte abhielt. Wegen des großen Erfolgs der ersten beiden Bücher bei seiner männlichen Leserschaft schob Ovid schnell den dritten Band hinterher. Darin findet man dann analog viele intime Ratschläge für die Damenwelt inklusive detailverliebter Empfehlungen für die besten Stellungen beim Beischlaf.

Ovid stieg mithin einige Jahre später im Jahr 8 n. Chr. nach Horaz‘ Tod mit seinen Amores, dem wichtigsten Werk der Römischen Liebes-Elegie, und seinem Hauptwerk, den Metamorphosen aus den Jahren 1 bis 8 n. Chr. zum meistgelesenen Dichter Roms auf. Gleichzeitig aber wurde er im Herbst desselben Jahres im Augenblick seiner größten Popularität und Beliebtheit von Kaiser Augustus ans Schwarze Meer nach Tomi verbannt, und das höchst perfide zu einem Zeitpunkt, als Ovid sich überhaupt nicht in Rom aufhielt, sondern gerade auf der Insel Elba beim Baden war. Der Senat wurde zu dieser Verbannung erst gar nicht befragt geschweige denn an der Urteilsfindung beteiligt, und ein Gerichtsverfahren gab es ohnehin nicht. Nur einen kaiserlichen Befehl, der dem in Ungnade gefallenen Dichter ziemlich würdelos zugestellt wurde, fernab von Rom auf einer Insel des Toskanischen Archipels im nördlichen Tyrrhenischen Meer, mit der unmissverständlichen kaiserlichen Anordnung, sich unbemerkt und unsichtbar aufzumachen in eine noch viel weitere Ferne und dort zu bleiben bis zum Ende. Entweder waren dem (offiziell zumindest) höchst sittenstrengen Kaiser die schlüpfrigen Ratschläge in der Ars Amatoria vier Jahre nach ihrer Veröffentlichung plötzlich sauer aufgestoßen oder Ovid war zufällig und unbeabsichtigt bei Hofe relativ zeitnah Mitwisser am Ehebruch der kaiserlichen Enkeltochter Julia und manch anderer diskret gehandhabter aristokratischer Unzucht geworden, die das ehrbare Bild des Kaisers in der Öffentlichkeit hätte zerstören können. Wahrscheinlich war das eine der Grund und das andere die Ausrede für die kaiserliche Verbannung. Tatsächlich durfte er vom Schwarzen Meer nie wieder heimkehren.

Eines aber war Ovid auf alle Fälle, und er war damit auch gewiss nicht der erste: unzufrieden. Unzufrieden mit den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Zuständen im Reich, und daher ließ er sich mehr oder weniger häufig mehr oder weniger subtil zu mehr oder weniger brisanten Bemerkungen und Geschichten zur Gesellschaftskritik hinreißen. Möglicherweise wollte sich auch deshalb keiner der angesehenen Geschichtsschreiber an ihm die Finger verbrennen. Man wusste schließlich sehr gut, wohin die Ungnade des Kaisers einen bringen konnte.

Gleich im ersten Buch seiner Metamorphosen (insgesamt gibt es 15 Bücher mit jeweils bis zu rund 900 Versen) schreibt er, inzwischen 44jährig, nach einer Art Einleitung (Proömium) von den vier Zeitaltern der Menschheit. Der Tenor ist unkompliziert, wenn nicht auf den ersten Blick sogar banal: „früher war alles besser“. Damit aber ist schon gleich zu Beginn die Gesellschaftskritik ganz und gar nicht mehr subtil. Ovid beginnt bei den goldenen Zeiten der Menschen, einer Epoche, als der griechischen Mythologie zufolge noch die Titanen herrschten, wo noch alles bestens aufgeräumt war und ewiger Frühling herrschte, keiner dem anderen etwas Böses antat und die üppige Natur so großzügig war, ohne Saat und Düngung alles wachsen zu lassen, was die Menschen zum Leben brauchten. Danach wendet er sich der silbernen Epoche zu, die ungefähr zu der Zeit von Jupiters Machtübernahme und dessen Sieg über den Vater Saturn beginnt, als die Jahreszeiten mit den weniger angenehmen Erscheinungen des Herbstes und Winters auf Jupiters Anweisung den ewigen milden glückseligen Frühling ablösen und die Menschen gezwungen werden Höhlen als Behausungen aufzusuchen, wenn sie nicht erfrieren, und sich um Ackerbau und Viehzucht kümmern müssen, sofern sie nicht verhungern wollen. Ganz so freundlich zueinander waren die Menschen dann schon nicht mehr. Wie sollte das auch funktionieren bei einem Göttervater, der ihnen vormacht, wie man den eigenen Vater hinterrücks entmachtet, ihn mithilfe der Geliebten betrunken macht und anschließend besinnungslos in die Unterwelt verschleppt. Andere Quellen sprechen an der Stelle übrigens von den Elysischen Gefilden am Rande der Welt, wo Saturn ohne Aussicht auf Entkommen gefangen gehalten wird bis zum heutigen Tag und wo nach wie vor das Goldene Zeitalter fortbesteht. Davon spricht Ovid allerdings nicht. Die nächste, die „eherne“ Epoche (Ovid meint Bronze als erstes unedles Metall in dieser Reihe) tut er in einem Zweizeiler ab, indem er lediglich feststellt, dass die Menschen kriegerischer werden und mit der Waffe schnell bei der Hand sind, „wilder“ in ihrer Denkweise, aber noch nicht „frevelhaft“. Danach widmet er sich ausgiebig, fast schon masochistisch dem vierten Zeitalter der Menschheit, seiner eigenen Gegenwart: dem Eisernen Zeitalter.

Natürlich ist Ovid nicht so ungeschickt, manifestis verbis herauszuarbeiten, dass er mit seiner detailreichen Beschreibung einer allgemein um sich greifenden ruchlosen Verrottung die aktuelle Gegenwart Roms aufzeigt. Trotzdem begreift sofort jeder, der das liest, dass mit diesen Schilderungen nichts anderes als die gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Zustände in Rom, der urbs, der Stadt der Städte, dem Nabel der Welt gemeint sein kann: nach Betrug, Gewalt, Intrigen, Krieg und Gewalt herrschen nun Geld, Gold, der Einfluss einiger Unwürdiger, gewürzt mit skrupelloser Habgier und grenzenlosem Machtanspruch. Das ist fast schon eine Vision des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts:

Besiegt liegt die Frömmigkeit darnieder und die Jungfrau
Astraea verlässt als letzte der Götter die von Gemetzel triefende Erde.

Publius Ovidius Naso, Metamorphoseon liber primus, vv. 149f

Übrigens soll, nebenbei angemerkt, auf diese Weise das Sternbild der Jungfrau entstanden sein: die unschuldige Astraea hat die elenden Machenschaften der Menschen auf der Erde gründlich satt und zieht sich als Sternbild in den Himmel zurück. Eigentlich ist die Dame seit Hesiod bereits längst bekannt. Dort heißt sie aber Dike und ist die Verkörperung der strafenden Gerechtigkeit Nemesis und die Tochter von Zeus und der Titanin Themis, einer Tante von Zeus. Aratos von Soloi, ein griechischer Dichter aus dem späten 3. Jh. v. Chr. benennt dagegen Astraios als ihren Vater, ebenfalls Titan und als Gott für die Abenddämmerung zuständig, und gut zwei Jahrhunderte später erklärt der Leiter der Augusteischen Palastbibliothek Gaius Iulius Hyginus kraft seines kaiserlichen Amtes Eos, die Göttin der Morgenröte zur Mutter der Dike. Erstmals als Astraea wird diese sagenumwobene Jungfrau mit dem strittigen Stammbaum aber in der Tat von Ovid hier, in Vers 149 im ersten Buch seiner Metamorphosen identifiziert.

Und wie eigentlich stehen wir heute da? Was kommt nach Eisen? Kommen da Plutonium oder Mikroplastik? Oder zerreißt es das Ganze und kommt Astraea wieder zurück, damit die Geschichte in einer Art Kreislauf wieder bei den einstigen Goldenen Zeiten anfangend von Neuem beginnen kann?

Gold werden wir gewiss im Übermaß brauchen, wenn wir die aktuellen Herausforderungen unserer näheren Zukunft noch bezahlen können sollen, und darum habe ich – ausnahmsweise einmal voller Optimismus – das aktuelle Bild Goldene Zeiten genannt. Ein wenig klingen da allerdings auch Charlie Chaplins Moderne Zeiten mit.

Die Originale der Ovid’schen Texte sind seit langer Zeit nicht mehr aufzufinden. Wir kennen heute die Metamorphosen nur noch aus früh- bis hochmittelalterlichen Abschriften. Ovids Vier Zeitalter sind in den Fragmenta Bernensia, dem Codex Bernensis 363 aus dem 9. Jh. erhalten geblieben.

Aurea prima sata est aetas, quae vindice nullo,

Als erstes wurde das goldene Zeitalter erschaffen, welches ohne einen Richter

sponte sua, sine lege fidem rectumque colebat.

freiwillig und ohne Gesetz die Treue und das Recht pflegte.

poena metusque aberant, nec verba minantia fixo

Strafe und Furcht waren fern und man las keine drohenden Worte auf einer öffentlich

aere legebantur, nec supplex turba timebat

angeschlagenen Erzstafel und keine demütige Menge fürchtete

iudicis ora sui, sed erant sine vindice tuti.

die Aussprüche ihres Richters, sondern sie waren sicher ohne Rächer.

nondum caesa suis, peregrinum ut viseret orbem,

Noch nicht war die gefällte Pinie, um einen fremden Erdkreis zu sehen,

montibus in liquidas pinus descenderat undas,

aus ihren Bergen herabgestiegen in die flüssigen Wellen,

nullaque mortales praeter sua litora norant;

und die Sterblichen kannten keine Küsten außer ihre eigene.

nondum praecipites cingebant oppida fossae;

Noch nicht umgaben tiefe Gräben die Städte;

non tuba derecti, non aeris cornua flexi,

es gab keine Tuba von geradem, keine Hörner von gebogenem Kupfer,

non galeae, non ensis erat: sine militis usu

keine Helme, keine Schwerter: ohne Verwendung für Soldaten

mollia securae peragebant otia gentes.

verbrachten die sorglosen Völker behagliche Tage.

ipsa quoque inmunis rastroque intacta nec ullis

Auch die Erde selbst gab, von der Hacke unberührt und von keinen

saucia vomeribus per se dabat omnia tellus,

Pflugscharen verletzt, von sich aus freiwillig alles her,

contentique cibis nullo cogente creatis

und zufrieden mit Nahrung, die ohne Zwang entstanden war,

arbuteos fetus montanaque fraga legebant

sammelte man Früchte des Erdbeerbaumes, und Bergerdbeeren,

cornaque et in duris haerentia mora rubetis

Kornelkirschen, Brombeeren, hängend an dornigen Sträuchern

et quae deciderant patula Iovis arbore glandes.

und die Eicheln, die von Jupiters breit verzweigten Baum herabgefallen waren.

ver erat aeternum, placidique tepentibus auris

Der Frühling war ewig, und die sanften Westwinde streichelten

mulcebant zephyri natos sine semine flores;

mit lauen Lüften die Blumen, die ohne Samen entstanden waren.

mox etiam fruges tellus inarata ferebat,

Bald auch trug die ungepflügte Erde Früchte,

nec renovatus ager gravidis canebat aristis;

und der nicht wiederbestellte Acker leuchtete weiß von schwerbehangenen Ähren;

flumina iam lactis, iam flumina nectaris ibant,

bald flossen Flüsse aus Milch, bald Flüsse aus Nektar,

flavaque de viridi stillabant ilice mella.

und goldgelber Honig tropfte von der grünen Steineiche herab.

Postquam Saturno tenebrosa in Tartara misso

Nachdem, seit Saturn in den finsteren Tartarus geworfen worden war,

sub Iove mundus erat, subiit argentea proles,

die Welt unter Jupiters Herrschaft stand, folgte das silberne Weltalter nach,

auro deterior, fulvo pretiosior aere.

minderer als das Goldene, wertvoller als das Bronzene.

Iuppiter antiqui contraxit tempora veris

Jupiter verkürzte die Zeiten des alten Frühlings

perque hiemes aestusque et inaequalis autumnos

und erreichte durch Winter und Sommer, unbeständigen Herbst

et breve ver spatiis exegit quattuor annum.

und kurzen Frühling ein Jahr mit vier Zeitabschnitten.

tum primum siccis aer fervoribus ustus

Damals erglühte zum ersten Mal die Luft, verbrannt durch trockene

canduit, et ventis glacies adstricta pependit;

Hitze, und durch die Winde erstarrt hing das Eis herab.

tum primum subiere domos; domus antra fuerunt

Damals suchten sie zum ersten Mal Behausungen auf; die Häuser waren Höhlen

et densi frutices et vinctae cortice virgae.

und dicht gehäufte Gestrüppe und mit Bast geschnürte Zweige.

semina tum primum longis Cerealia sulcis

Damals wurden zum ersten Mal die Samen der Ceres in langen Furchen

obruta sunt, pressique iugo gemuere iuvenci.

eingepresst und die Jungstiere, vom Joch niedergedrückt, stöhnten.

Tertia post illam successit aenea proles,

Als Drittes folgte nach jenem das bronzene Zeitalter nach,

saevior ingeniis et ad horrida promptior arma,

wilder von den Veranlagungen her und entschlossener, zu schrecklichen Waffen zu greifen,

non scelerata tamen; de duro est ultima ferro.

dennoch war es nicht verbrecherisch. Das letzte ist von hartem Eisen.

protinus inrupit venae peioris in aevum

Sofort brach in das Zeitalter dieser recht schlechten Metallader

omne nefas: fugere pudor verumque fidesque;

das ganze Unrecht ein: Scham, Wahrheit und Treue flohen.

in quorum subiere locum fraudesque dolusque

Auf ihren Platz folgten sowohl Betrug als auch List

insidiaeque et vis et amor sceleratus habendi.

und auch Hinterhalt und Gewalt und verbrecherische Habgier nach.

vela dabant ventis nec adhuc bene noverat illos

Man setzte Segel in den Wind – dabei hatte man ihn noch gar nicht gut kennengelernt;

navita, quaeque prius steterant in montibus altis,

und sie, die zuvor auf den hohen Bergen gestanden waren,

fluctibus ignotis insultavere carinae,

die Schiffskiele tanzten auf unbekannten Fluten.

communemque prius ceu lumina solis et auras

Und der Boden, der früher allen gemeinsam gehörte wie das Sonnenlicht und die Lüfte,

cautus humum longo signavit limite mensor.

den steckte ein sorgfältiger Landmesser mit seiner langen Grenzlinie ab.

nec tantum segetes alimentaque debita dives

Und es wurden nicht nur die Pflanzen und die geschuldete Nahrung vom

poscebatur humus, sed itum est in viscera terrae,

reichen Erdboden eingefordert, sondern man drang auch in die Eingeweide der Erde ein

quasque recondiderat Stygiisque admoverat umbris,

das, was sie verborgen und den Schatten des Styx nähergebracht hatte,

effodiuntur opes, inritamenta malorum.

diese Schätze wurden ausgegraben als Anreiz zum Bösen.

iamque nocens ferrum ferroque nocentius aurum

Und schon hatte sie das schädliche Eisen und das Gold, noch schädlicher als das Eisen,

prodierat, prodit bellum, quod pugnat utroque,

hervorgebracht: es entsteht Krieg, der zu beiden Seiten kämpft

sanguineaque manu crepitantia concutit arma.

und der mit blutiger Hand die klirrenden Waffen aneinanderschlägt.

vivitur ex rapto: non hospes ab hospite tutus,

Man lebt vom Raub; der Gastfreund ist vor dem Gastgeber nicht mehr sicher,

non socer a genero, fratrum quoque gratia rara est;

der Schwiegervater nicht vor dem Schwiegersohn; auch die Bruderliebe ist selten.

inminet exitio vir coniugis, illa mariti,

Der Mann trachtet nach dem Tod der Gattin, jene nach dem des Gatten;

lurida terribiles miscent aconita novercae,

die schrecklichen Stiefmütter mischen den todbringenden* Eisenhut;

filius ante diem patrios inquirit in annos:

der Sohn forscht vor der Zeit nach den Jahren des Vaters:

victa iacet pietas, et virgo caede madentis

Besiegt liegt die Frömmigkeit darnieder und die Jungfrau

ultima caelestum terras Astraea reliquit.

Astraea verlässt als letzte der Götter die von Gemetzel triefende Erde.

 

* eigentlich: leichenblass machenden

Publius Ovidius Naso, Metamorphoseon liber primus, vv. 89-150

Die meisten Bayerischen Abiturienten, sofern sie sich mutig mit Latein bis zu den Abschlussprüfungen befasst haben, glauben ja zu wissen, dass der Verfassungskreislauf von Cicero erfunden wurde. Man übersetzt mühselig seinen Somnium Scipionis, quält sich durch die Philosophie der De Re Publica und ist am Ende froh, dass man den Wechsel der Staatsformen begriffen hat: allesamt scheinen sie unausweichlich ins Negative abzudriften, um sodann mittels Volksaufstands oder Palastrevolution in eine nachfolgende Staatsform überführt zu werden. Auch dieses neue Konzept verkommt im Laufe der Zeit genauso, wird nochmals abgelöst von etwas Neuem und immer so weiter und weiter bis ans Ende der Menschheit.

Abgesehen von der Tatsache, dass es Polybios war, der diese Verfassungslehre im 2. Jh. v.Chr. begründet hat und Cicero als Eklektiker (das ist einer, der sich überall Sachen zusammensucht, sich die besten Rosinen herauspickt, alles neu zusammenstellt und dann als eigenen Kram verkauft; das System ist auch bei zeitgenössischen Politiker:Innen hinlänglich bekannt und beliebt) die Angelegenheit lediglich neu formuliert hat, geht es dabei letztlich nur um folgendes:

Da wird einer vom Volk zum König gemacht, weil er sich als anständig, aufrichtig, mutig, visionär, grundehrlich und so weiter hervorgetan hat und die Menschen der Meinung sind, das ist der Richtige. Am Anfang ist er das auch. Er kümmert sich um sein Volk, stellt sein Handeln in das Wohl der Menschen, die ihm vertrauen und denkt an sich selbst zuletzt. Das geht eine Zeitlang gut. Das Königreich wird wie üblich an die Nachkommen weitergegeben, und je länger die Sache läuft, desto weniger sind die nachfolgenden Herrscher am Gemeinwohl interessiert. Man lebt schließlich prächtig, hat sich auch längst an die Selbstverständlichkeit von Wohlstand und Luxus gewöhnt, der Hofstaat liest dem Monarchen alle Wünsche von den Lippen ab, und auf einmal stellt man fest: die Sicherheit ihres Herrscherdaseins hat bei den Königen nach und nach Habsucht, Arroganz, Gier, Ungerechtigkeit und Größenwahn fest verankert. Dann ist aus der Monarchie eine Tyrannis geworden.

Die findet beim Volk keine große Zustimmung. Man murrt und sinnt auf Umsturz und vertraut dabei auf den ebenfalls unzufriedenen Adel, denn zunächst nimmt die sogenannte Oberschicht die Sache in die Hand. Die aufgebrachten Adeligen entledigen sich des Tyranns und installieren eine neue Staatsform: die Aristokratie. Am Anfang ist die neue Führungsriege tatsächlich auch wieder sehr bemüht, dass es dem Volk gutgeht und alle zufrieden sind. Man macht alles besser als es vorher war, was im Vergleich zu den Umtrieben des davongejagten Tyranns auch nicht übermäßig schwer ist. Letztlich passiert den Adeligen dann aber früher oder später dasselbe wie dem König, der allmählich zum Tyrannen wurde: sie missbrauchen ihre Macht, wirtschaften in ihre eigenen Taschen, beuten das Volk aus, stellen sich selbst immer die dicksten Gehaltsschecks aus und etablieren in vollkommener Selbstverständlichkeit ihren Größenwahn. Dann ist aus der Aristokratie eine Oligarchie geworden: einige wenige stinkreiche Strippenzieher werden immer reicher und mächtiger und das Volk versinkt in Armut. Das Konzept ist bis heute nicht unbekannt.

Gut. Auch diese Zustände dauern nicht ewig. Dieser Gedanke ist durchaus tröstlich. Das Volk reißt eine Revolution vom Zaun, erhebt sich und schlägt alles kurz und klein. Auch das kennt man. Im besten Fall bildet sich eine Demokratie, die Herrschaft des Volkes. Wenn es dumm läuft, wird ein kommunistisches System installiert. Dann steht die Herrschaft des Volkes zwar auf dem Papier und in der Verfassung, aber in Wirklichkeit übernimmt eine neu entstandene, hundsgemeine Clique aus neo-oligarchischen Oberkommunisten die Macht. Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher. (George Orwell, „Animal Farm“ 1945) Aber wieder zurück zur Demokratie: Jeder einzelne ist der Staat und die gewählten Volksvertreter sind die Handlanger des Volkswillens – schließlich können nicht alle durcheinanderschreien, sondern bestimmen einzelne Leute (von denen sie glauben, die seien anständig, aufrichtig, mutig, visionär, grundehrlich und so weiter) und übertragen ihnen das Mandat, den Staat zu führen und die Gesellschaft zu entwickeln. Das Volk ist und bleibt der Souverän und die Mandatsträger müssen alles tun, was das Volk will. Auch das ist bekannt, in der Theorie wenigstens. Leider steht sich diese Demokratie aber früher oder später erneut selbst im Weg, weil die Mandatsträger ja nach wie vor Menschen und damit nach wie vor egoistisch, gierig, machtbesessen, rechthaberisch und so weiter… – es kommt, wie es nach Polybios kommen muss: die Demokratie verkommt zur Herrschaft des Pöbels, zur Ochlokratie.

Und dann schließt sich der Kreislauf, denn früher oder später schwingt sich in diesem planlosen Durcheinander des ordinären Pöbels, in dem jeder nur an sich selbst denkt, mehr oder weniger plötzlich ein einzelner empor, ein Heilsbringer, ein Retter, ein Führer, einer, der den Menschen klar macht, dass sie ihm nur zujubeln und sich unterordnen müssen, und schon wird alles wieder gut. Im günstigsten Fall stehen wir dann wieder am Anfang einer Monarchie. Es kann aber auch so ausgehen, dass den Laden gleich der Tyrann übernimmt. Auch dafür gibt es das eine oder andere Beispiel.

Zu George Orwells‘ Farm der Tiere siehe den Artikel auf Wikipedia (externer Link)
https://de.wikipedia.org/wiki/Farm_der_Tiere

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