- Herbsttag (1902)
- Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
- Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
- und auf den Fluren lass die Winde los.
- Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
- gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
- dränge sie zur Vollendung hin und jage
- die letzte Süße in den schweren Wein.
- Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
- Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
- wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
- und wird in den Alleen hin und her
- unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Rainer Maria Rilke – aus dem Gedichtband „Buch und Bilder“ (Paris, 1902)
2023, Acryl, Gouache, Filzstift, Galltinte, Aquarellfarben und Alleskleber auf Karton, 63×73 cm
Im Herbst 1902 hatte Rilke seine Frau und sein gerade zur Welt gekommenes Kind nach nur anderthalb Jahren Ehe verlassen und war von Berlin nach Paris gezogen, wo er für einen Verlag eine zweiteilige Monografie über Auguste Rodin verfassen sollte. Als Rilke zu Rodin kam, hatte er seine eigene Sprache noch nicht vollkommen entwickelt, suchte immer noch den ihm gemäßen Stil und neigte sich in geradezu demütiger Verehrung vor dem großen französischen Meister, dessen Arbeitsethos er sich zu eigen machte: „Man muss arbeiten, nichts als arbeiten. Und Geduld haben.“ Und: „Man muss das Glück in seiner Kunst finden.“ In der Auseinandersetzung mit Rodin hat Rilke tatsächlich aus seiner schwierigen Situation allmählich zu sich selbst gefunden, die Jahre bei und mit Rodin waren ein Prozess notwendiger Emanzipation. Rilkes autobiografische Umstände sind bei der Deutung des Gedichtes wichtig, denn Herbsttag hat er in dieser Zeit des persönlichen und beruflichen Umbruchs geschrieben. In dem Gedicht geht es vermittels dieser Metapher um das Finden oder Verpassen eines glücklichen Lebens, um den rechten Zeitpunkt, den man nicht verfehlen darf, wenn man sein Leben als „erfüllt“ bezeichnen will.
Die erste Strophe thematisiert den Übergang zum Herbst: der Sommer wird durch das Präteritum „war“ bereits als vergangen dargestellt, schon präsentiert die Natur die Schatten und Winde als untrügliche Kennzeichen des Herbstes. Rilke stellt den Übergang nicht fest, er fordert ihn in Gebetsform. Der Anlass ist auf den ersten Blick schlicht: die Zeit des Herbstes ist gekommen und der Sommer vergangen. Durch die Gebetsform wird die regelmäßige metrische Form des fünfhebigen Jambus gebrochen. Der „Herr“ verändert am Anfang des ersten Verses den Jambus zum Daktylus – ebenso wie das „dränge sie“ im zweiten und das „unruhig“ am Anfang des letzten Verses. So zieht sich eine holprige Unsicherheit über die eigene Zukunft durch das ganze Gedicht.
Die Tatsache eines beginnenden Herbstes scheint selbstverständlich zu sein, dennoch gibt sie das Thema des Gedichts an: die Zeit und ihr unaufhaltsames Vergehen. Das verdeutlicht sich auch im Bild der Sonnenuhren, die die Zeit messen und ihren Ablauf anzeigen, falls die Sonne, das Symbol für den Sommer, es überhaupt gestattet. Die Antithese im Begriffspaar „Schatten“ und „Sonnenuhren“ verweist auf eine tiefgreifende Veränderung der Zeit: sie entzieht sich jeder Bestimmbarkeit, wenn der Schatten sich über sie legt.
Die zweite Strophe handelt von der Ernte reifer, vollendeter Früchte. Das Gebet setzt sich fort mit der Bitte, die Reifung der Früchte zu einem guten Ende zu bringen. Anfangs noch „Früchte“, werden die schließlich konkret zu „Wein“. Der Ausdruck von Lebensfreude, berauschenden Erlebnissen und die Glücksmomente eines Lebens schwingen hier mit, wenn Rilke die Süße dieses Weins erwähnt. Auch die Erinnerung an den Sommer ist noch sehr präsent in den „südlicheren Tagen“. In dieser Strophe thematisiert sich die Zeit nicht als Veränderung, sondern als reife Vollendung und zugleich, angedeutet durch das „dränge sie“ als notwendiger, in gewisser Hinsicht sogar erwünschter Prozess.
In der dritten Strophe weitet sich endlich der Blick. Nicht länger die Natur, sondern der Mensch steht nun im Fokus. Folgerichtig wandelt sich das Gebet in eine Reflexion des eigenen Zustandes. Die Auswirkungen des Herbstes auf den Menschen werden drastisch dargestellt. Rilke nutzt die Anapher „Wer jetzt …“ – „wird es lange …“ und die parallele Syntax, um die drängende Gefahr der unausweichlichen Situation auf die Menschen herauszustellen: emotionale Obdachlosigkeit, verlorene Geborgenheit, unausweichliche Einsamkeit – das sind die drohenden Aussichten, wenn man es bis zum Ende seines eigenen Sommers nicht geschafft hat, sich seinen einen Zufluchtsort zu schaffen oder die rechte Gesellschaft zu finden. Die Feststellung lässt keinen Zweifel daran, dass dieser Zustand dann für lange Zeit, wenn nicht gar für immer unabänderlich sein wird. Das Bild der treibenden Blätter untermalt und reflektiert den „unruhig wandernden“, in seiner Existenz heimatlosen Menschen. Das Aufbrechen des metrischen Ebenmaßes durch das Wort „unruhig“ betont die Aussage zusätzlich. Übrig bleibt ein einsames Dasein: „wachen, lesen, lange Briefe schreiben“ und „unruhig wandern“ – all das deutet auf das Resultat eines leeren, in sich selbst zurückgezogenen Lebens.
Der Perspektivwechsel von der Natur in den ersten beiden Strophen zum Menschen in der dritten Strophe, der Themenwechsel von Reife und Vollendung hin zu Einsamkeit ist kein Widerspruch, sondern eine dialektische Einheit. Rilkes Forderung nach Vollendung der Natur zeigt im nächsten Atemzug bereits die Folgen einer fehlenden Vollendung für jedes menschliche Leben auf. Das gedoppelte „Wer“ in den ersten Versen der dritten Strophe stellt klar: Einsamkeit liegt nicht in der menschlichen Natur, sie entwickelt sich aus gescheiterter „Vollendung“, wenn es misslingt, die eigene, ganz persönliche soziale Heimat zu finden.
Diesen Gedanken unterstützt auch die Form des Gedichts durch die wachsende Anzahl der Verse in den Strophen: die dritte Strophe erweitert ihren umarmenden Reim, der in der zweiten Strophe rein auftritt und in der ersten lediglich durch den Binnenreim „Fluren“ angedeutet wird, um einen weiteren Vers. Die Strophe wird dadurch länger als erwartet. Sie findet kein Ende, fast wie das einsame Wandern in den herbstlichen Alleen, das so endlos dauert. Rilke nutzt die Metapher des Herbsttages in doppelter Hinsicht. Zunächst dominiert die wörtliche Bedeutung, die sich in den Naturbildern ausdrückt, in den Schatten, den Winden, den treibenden Blättern. Durch die Bezugnahme auf den Menschen und seine Einsamkeit entwickelt sich aber eine neue Bedeutungsebene. Die Schaffung einer persönlichen Heimat, eines eigenen Platzes innerhalb der menschlichen Gesellschaft und damit der Gewinn einer erfüllten Lebensweise – all das muss ganz persönlich zu einer bestimmten Zeit geschehen. Wer den rechten Zeitpunkt verpasst, verliert sich selbst auf unbestimmte Dauer. Der Dichter mag bei diesem Momentum, blickt man auf seine Biografie, weniger an ein erreichtes Lebensalter gedacht haben als vielmehr an eine vergeudete Zeit im Leben, eine Zeit des Misserfolgs, der Krankheit oder der Unzufriedenheit. Der Umstand, dass sich Rilke später zu einem der größten Dichter deutscher Sprache entwickelt, kann dem Leser jedenfalls seine eigene tröstliche Hoffnung zurückbringen: alles ist möglich, immer – und: besser spät als nie.
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Aus dem Werk ist eine Druckgrafik gleichen Namens entstanden.
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