Komm in den totgesagten Park und schau: Lily auf Reisen mit unbekanntem Ziel

komm in den totgesagten park und schau:
der schimmer ferner lächelnder gestade
der reinen wolken unverhofftes blau
erhellt die weiher und die bunten pfade
dort nimm das tiefe gelb das weiche grau
von birken und von buchs. der wind ist lau
die späten rosen welkten noch nicht ganz
erlese küsse sie und flicht den kranz
vergiss auch diese letzten astern nicht
den purpur um die ranken wilder reben
und auch was übrig blieb von grünem leben
verwinde leicht im herbstlichen gesicht.

Stefan George (1897)


2024, Aquarell und Gouache auf Papier, mit Spatel berieben, 43 x 50 cm
Totgesagter Park (Komm in den totgesagten Park und schau: Lily auf Reisen mit unbekanntem Ziel)

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde berichtet, Georges Geheimes Deutschland sei ein Widerstandsmodell gegen den Nationalsozialismus gewesen, und der angeblich zum Kreis gehörende Claus Schenk Graf von Stauffenberg habe sich dadurch in seinem Widerstand bestärken lassen. Letztlich habe erst Georges Gedankengut zu dem Attentat vom 20. Juli 1944 geführt.

Heute sieht man das nicht mehr so. Theodor W. Adorno, Thomas Mann und Walter Benjamin zählen den George-Kreis sogar zu einem der Wegbereiter des Nationalsozialismus. Der späte George lehnte die moderne Zivilisation ab, verstieg sich in seine Naturmystik und öffnete mit seinem übersteigert-elitären Gestus gar der Gedankenwelt der Nationalsozialisten Tür und Tor.

Von all diesen Abstrusitäten findet man in der Gedichtsammlung Das Jahr der Seele aus dem Jahr 1897 gottlob nichts. Der Band ist in drei Teile gegliedert und beginnt mit Gedichten zum Herbst, danach Winter- und schließlich Sommergedichten. Der Frühling wird nicht erwähnt.

Fast ausnahmslos handelt es sich bei dieser bedeutenden Gruppe um jambische Fünfheber mit meist drei je vierzeiligen Strophen. Sie sind regelmäßig gebaut und verwenden abwechselnd männliche und weibliche Kadenzen. Der dadurch erzeugte getragene Ton entspricht in seiner Gleichmäßigkeit der inhaltlichen Abgeschlossenheit und Rundung der drei Strophen, die sehr verdichtet und reflexiv-verinnerlicht sind.

Immer taucht das lyrische Ich in die Tiefen der eigenen Seele ein und erfährt sich dabei selbst, vor den Grundbedingungen der Natur im jahreszeitlichen Wechsel trauernd, sinnierend, leidend aber immer auch voller Hoffnung. Das Ich begegnet der Natur dabei niemals erlebnishaft. Es findet auch nie eine Verschmelzung mit der Natur statt, die immer nur als Hintergrund und als Bühne für das Selbstgespräch der Seele fungiert. Die Natur in diesen Gedichten erzeugt lediglich die Stimmung des Gedichts, sie bleibt schemenhaft skizziert, stellt sich in suggestiven Details, Tönen und Farben dar, und sie präsentiert sich immer als eine durch menschlichen Eingriff gebändigte Landschaft: als Teich, als Park oder als Pfad entlang eines Ufers. Und damit hat Georges Lyrik überhaupt nichts mit der Naturlyrik der Romantik zu tun, wo das lyrische Ich gern mit dem Pantheistisch-Göttlichen in jedem erspürten einzelnen Grashalm Eins wird.

Dieses zurückhaltende Betrachtungsprinzip findet sich auch deutlich bereits im ersten Gedicht der Sammlung. Es handelt sich um eines der berühmtesten Werke Georges: Komm in den totgesagten Park und schau – schon die erste Strophe gehört „zu den schönsten Zeugnissen lyrischer Landschaftsfeier“. (Rainer Gruenter: „Herbst des Gefühls“ in: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): „Von Arno Holz bis Rainer Maria Rilke. 1000 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen“ Insel-Verlag Frankfurt/Main (1994), S. 119)

Stefan George erzählt uns in seinem Gedicht „komm in den totgesagten park und schau“ aus dem Jahre 1897 vom Herbst, der in den Park Einzug hält. Auch wenn man dabei vermutet, dass dort offenbar alles zumindest auf den ersten Blick abgestorben ist, so steckt dieser Park erstaunlicherweise trotz allem immer noch voller Leben.

Die erste Strophe beginnt mit einer Einladung, sich den Park anzuschauen. Eine Überraschung für den Leser ist die positive Stimmung voller heller, bunter Farben. Die zweite Strophe macht auf weitere Farben aufmerksam, die dort entdeckt werden können. Rosen werden erwähnt, aus denen sogar noch ein Kranz geflochten werden soll. In der letzten Strophe wird der Leser aufgefordert, weitere herbstliche Pflanzen zu sammeln, um daraus ein freundliches Potpourri zu fertigen.

Das Gedicht aus drei Strophen zu jeweils vier Versen bestimmen fünfhebige Jamben. Die Verse eins, drei, fünf bis neun, sowie der letzte Vers enden auf männlichen, betonten Kadenzen, die übrigen enden weiblich und unbetont. Die betonten Kadenzen dienen dazu, Worte von Wichtigkeit hervorzuheben, so zum Beispiel die Farbadjektive „blau“ in Vers drei und „grau“ in Vers fünf. Der Wortfluss atmet förmlich eine innere, stillvergnügte Geschlossenheit, und die ruhige, sich wie aus sich selbst heraus entwickelnde Sprache macht die Verinnerlichung der Situation zu einem Spiegel der Seele. Das Reimschema wechselt von Strophe zu Strophe: während in der ersten Strophe noch durch die Reimordnung a b a b die Verbundenheit von Beschauer, Himmel und Erde zum Ausdruck kommt, bildet die Reimfügung a a c c in Strophe 2 die noch für sich isoliert stehenden, nicht zusammengefügten einzelnen Aspekte des Parks ab. Erst die dritte Strophe präsentiert mit ihrem umschließenden Reim ein schönes Bild des Kranzes selbst, und zwar dadurch, dass die männlichen Kadenzen in Vers neun und zwölf die weiblichen Reime von Vers zehn und elf fest umschließen, die inhaltlich und charakterlich offen und weit sind und schließlich durch deren Umarmung zusammengehalten werden.

Durch diesen melodischen Fortgang entwickelt sich eine stille Ruhe, die zu den Vorgängen des herbstlichen Verfalls eine fast zärtliche, beruhigende Haltung einnimmt. Das lyrische Ich sieht im Verblassen und Dahinschwinden des Lebens nichts Furchteinflößendes oder Schreckliches, sondern findet vielmehr innere Ruhe in der schicksalhaften Situation, weil es die unausweichliche Tatsache des Verfalls akzeptieren kann.

Ganz bewusst ist des Dichters Sprache von der Alltagssprache abgegrenzt. Sie ist voller Stilistik und formal streng und in sich geschlossen. Für die Epoche des Symbolismus, in der wir uns hier befinden, ist dieser Ästhetizismus eines späten 19. Jahrhunderts durchaus typisch. Die Darstellung ist selbstreflexiv: der Leser „sieht“ das, was dem lyrischen Ich selbst ins Auge fallen will. Dabei deutet die fehlende Groß- und Kleinschreibung auf eine innere Unabhängigkeit hin. Man spürt Georges Abneigung, sich dem allgemeinen Mainstream anzugleichen oder mit dessen oberflächlichen Reizen konkurrieren zu wollen. Trotz des großen Wortes „Abschied“, der in diesem Gedicht eindeutig thematisiert wird, hat die Sprache nichts Weinerliches. Da ist keinerlei Selbstmitleid zu finden: eine vornehme, stille Sprache, die niemals kitschig wirkt oder ins Schwülstige abdriftet, eine Sprache, die einen starken, selbstbewussten Charakter demonstriert, der sich vom Schicksal nicht unterdrücken lässt, sondern seine Haltung zur Situation selbst bestimmt.

Die in weiter Ferne „lächelnden Gestade“ in Vers zwei – Symbole für eine lang zurückliegende Jugend – erhellen in Vers vier die Situation. Die Erinnerung an das Zurückliegende wirkt nicht wie eine melancholische Retrospektive, sondern präsentiert sich vielmehr als beruhigend und kraftspendend für den Teil des Weges, der noch vor einem liegt, bis zuletzt alles vorbei sein wird. Das vergangene Leben wird in Vers vier als „Weiher“ beschrieben, als ein tiefer, wertvoller Lebensschatz, und die einstigen Irrungen und Wirrungen des jungen Menschen stellen sich rückblickend als etwas Schönes dar, als „bunte Pfade“. Es ist, als wolle der Dichter abgeklärt und mit sich versöhnt über sein eigenes Dasein lächeln, als wolle er nachträglich alles akzeptieren, was sein Leben, auch wenn es voller Irrwege gewesen sein mochte, schön und reich gemacht hat, ohne dass er dem Bedauern darüber, dass nun alles langsam zu Ende geht, Raum geben will. Das lyrische Ich wirkt sehr selbstbewusst und voller Lebensweisheit und keineswegs traurig.

Auch die Farben, die verwendet werden, sind keine die Farben, die sich im Allgemeinen mit Tod oder Untergang assoziieren, sondern sie zeigen vornehme Zurückhaltung und stilsichere Komposition: weiches Grau kontrastiert in Vers fünf mit tiefem Gelb. Das ist selbstbeherrschte, würdevolle Distanz. Das überraschend „unverhoffte“ Blau in Vers drei lässt die Vergangenheit im Licht selbstverständlicher Leichtigkeit erscheinen. Insgesamt spielen die Farben in diesem Gedicht daher eine zentrale Rolle. Die herbstliche Atmosphäre stellt sich fast von selbst ein durch die Erwähnung der purpurnen Ranken, des immergrünen Buchs und den Hinweis auf die herbstlichen Astern, die zuletzt noch einen schönen, lebendigen Aspekt einbringen. Der Park, der angeblich totgesagt ist, wirkt durch den blauen Himmel und die immer noch farbigen Pflanzen in den Versen fünf und zehn in keinem Augenblick leblos.

Auch die Pflanzen sind in ihrer Bedeutung klug gewählt. Birken und Buchs in Vers sechs stehen für das Leben und seine Kraft, die Rosen in Vers sieben für die alles besiegende Liebe. Trotz dieser selbstverständlichen Repräsentanz innerer Stärke wirkt der Ton insgesamt dennoch zurückgenommen, abgeklärt und selbstbeherrscht.

Diese selbstauferlegte und reflektierte, nach außen fast als Schüchternheit wirkende Besinnung auf die eigene Existenz symbolisiert den Umgang mit dem Abschied. Es zeigt sich eine zwar objektiv vorhandene Trauer und tiefe Einsicht in die Unausweichlichkeit der Situation, bezeugt aber gleichzeitig, dass die späten Rosen in Vers sieben „noch nicht ganz“ verwelkt sind. Auch sie sind eine vornehme und selbstbeherrschte Symbolik, die das lyrische Ich voller Souveränität verwendet. Dieses „noch“ gibt Kraft, denn „noch“ ist Lebenszeit vorhanden. Erst ganz zuletzt wird sich der Traum entleeren. Auch wenn hier deutlich der Abschied vom Leben mitschwingt, lässt der Sprachfluss dennoch kein melancholisches Verweilen in der Situation zu. Trotz aller zurückhaltender Pathetik entwickelt sich kein klagendes Bedauern über die Tatsache, dass zuletzt alles zerfließt und endet. Die Trauer des Gedichtes ist gefasst und eingebunden in Selbstdisziplin, Haltung und den Willen nach Erhalt der Schönheit.

Die Erinnerungen an ein zufriedenes, erfülltes Leben symbolisiert der geflochtene Kranz in Vers acht. Der verknüpft die alten Hoffnungen, die Verheißung des Lebens, die einstige Liebe und die Verirrungen einer vor langer Zeit jung gewesenen Seele, das einstige „grüne Leben“, mit den „letzten Astern“ und dem „Purpur“, des verfärbten Laubes „wilder Reben“, den einstigen, inzwischen längst erloschenen Sturm und Drang und die früheren Emotionen. Was nur noch als Erinnerung existiert, führt die Gegenwart des Parks so zu dem, was übrigblieb, in eine von Stille geadelte Zufriedenheit zusammen und verbindet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einem vollendeten Leben. Alles, was noch gesagt werden muss, lässt sich so „verwinden“, lässt sich einbinden in die unumkehrbare Gegenwart des Alters. Und so akzeptiert das lyrische Ich auch, dass dies der Lauf des Lebens ist und dass es die Selbstachtung des Individuums erfordert, von seiner Vergangenheit bewusst und aus freien Stücken gefasst Abschied zu nehmen, um sich das Leben nicht willkürlich und ohnmächtig entreißen zu lassen.

Bei all dem symbolisiert der Park als vom Menschen gestaltete Natur dabei das individuell gelebte und geprägte Leben, welches das lyrische Ich hier nochmals in schweigender Zufriedenheit und mit sich selbst im Reinen vor seinem inneren Auge vorbeiziehen lässt. Der Dichter beendet so selbst sein eigenes Sommergefühl, nimmt aus freien Stücken Abschied von den Dingen, die sein Leben bestimmt haben und akzeptiert den Herbst seines Lebens. Er lässt sich nicht von der Situation in eine Depression drängen, sondern bestimmt seine gegenwärtige Situation und seinen eigenen Blick darauf in souveräner Weise selbst.

Dies belegen auch die zahlreichen, auffälligen Imperative. „komm“ und „schau“ im Titel und im ersten Vers stechen sofort heraus. Das „nimm“ aus Vers fünf und das „erlese, küsse“ und „flicht“ in Vers acht sind weitere Beispiele für die unmissverständliche Aufforderung, den Park genau zu betrachten und die Natur aufmerksam wahrzunehmen, um dort die Stimmung und angenehmen Gefühle auch wirklich erkennen zu können. Sie stellen eine Aufforderung an den Leser dar, sein eigenes Leben genau zu betrachten, das Schicksal anzunehmen und sein Leben und den weiteren Fortgang bis hin zum unausweichlichen Ende zu akzeptieren, um souverän und voller Selbstbewusstsein damit umgehen zu können.

Die Personifikation „herbstliches Gesicht“ in Vers zwölf deutet hierbei sehr deutlich auf die Metapher, für die der Park steht, nämlich das „Gesicht“ eines individuellen Lebenslaufes, der unterschiedliche Emotionen enthält und der sich im Zeitverlauf ebenfalls verändert, genauso wie die Natur des Parks.

Sogar die Liebe und das Glück in der Natur und im Leben sind im Gedicht identifizierbar: „unverhofft“ und „küssen“ assoziieren sich mit den Gefühlen, die den Gang durch den Park, den Weg durchs Leben bestimmen.

Der Park dient somit zusammengefasst als Spiegel und als Leinwand für die Vorgänge in der menschlichen Seele im Verlauf des Lebens. Die Natur wird als eine vom Menschen gezähmte Umgebung dargestellt. Auch das Leben eines Menschen innerhalb seiner Gesellschaft ist immer Regeln und Bedingungen unterworfen – auch das Leben ist „gezähmt“. Viele naturlyrische Motive tauchen auf, die aber mit den Mitteln der Moderne dargestellt werden: die Natur verschmilzt nicht mehr mit der Seele, wie in der Naturlyrik, sondern stellt lediglich den vom Menschen erschaffenen und gestalteten Hintergrund dar, vor dem die Seele symbolisch mit sich selbst kommuniziert.

Die Jahreszeiten als mystischer Kern der Natur sollen auf diese Weise den Stimmungsbogen des lyrischen Ichs widerspiegeln. Freilich symbolisiert der Herbst die Nähe des bevorstehenden Endes, aber er symbolisiert auch die Vollendung eines vom Alter geprägten und erfahrenen Menschen, der in der Abgeklärtheit eines erfüllten Lebens seine persönliche Gegenwart annehmen kann und nicht mit seinem Schicksal hadern muss, weil er den natürlichen Lauf der Dinge zu akzeptieren gelernt hat.




So, wie ich unsere gute Lily kannte, wird sie sich auf ihren aktuellen Reisen mit unbekanntem Ziel wohl auch in diesem Park umschauen. Die dortige Atmosphäre wird ihr vermutlich sehr gefallen. Wer genau hinschaut, sieht sie dort vielleicht sogar.

Zur weiteren Information zu Lily und ihrem Dasein empfehle ich die Lektüre: Lilys Übergang.

Weitere Informationen (externe Links):
Reportage auf 3sat (2018): „Stefan George – Das geheime Deutschland“
Stefan George: Das Jahr der Seele bei Klett-Cotta 

 

Druckgrafik zum Werk

Aus dem Werk ist eine Druckgrafik gleichen Namens entstanden.
 
2024, Torchon Aquarellpapier (285g Hahnemühle), lim., sign. u. numm.
Blattformat 35 x 41 cm (Motiv 19 x 25 cm)

 

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