In der griechischen Mythologie ist Narcissus ein schöner junger Mann, der die Liebe der Echo zurückweist und sich viel lieber in sein eigenes Spiegelbild verliebt. Wieder einmal ist es Ovid in seinen Metamorphosen, der die tragische Geschichte erzählt, und wieder einmal haben natürlich die Götter ihre bösen Finger im Spiel.

2016, Acryl auf Leinwand, 35 x 28 cm
Der Blick nach Innen

21. Februar 2021

Es ist fast unmöglich, mit einem Narziss Schluss zu machen. Er wird einen anflehen zu bleiben und ihn nicht im Stich zu lassen. Er lügt perfekt, denn er tut das schon sein ganzes Leben lang. Das Ego ist nur vorgetäuscht, es überdeckt nur das Minderwertigkeitsgefühl. Aber er weiß genau, was er erzählen muss, dass man aus Scham oder Mitgefühl bei ihm bleibt. Seine Lügen sind so perfekt, dass die Opfer glauben, gerade selbst etwas falsch gemacht zu haben. Und er ist ein Meister der Selbstrechtfertigung.

Mit dieser Rechtfertigung des eigenen Fehlverhaltens einher geht die Unfähigkeit zur Übernahme von Verantwortung. „Ich kann nichts dafür, ich habe eine schwere Zeit. Darum muss ich Alkohol trinken. Das musst du verstehen und mir verzeihen!“

Ein Narziss will, dass sich der andere schuldig fühlt allein deswegen, weil er Kritik geübt hat. Die beliebteste Hinhaltetaktik ist die, zu behaupten, dass jetzt alles schon viel besser sei. „Ich war Alkoholiker, aber ich habe das jetzt im Griff.“ Wenn dann ein Fehler passiert, war immer das Gegenüber Schuld. Der Narziss konnte nie etwas dafür und es ist die Schuld der anderen, dass er rückfällig wurde.

Dafür wird er wütend, wenn man die kleinen Dinge nicht lobt oder hochschätzt, die er vermeintlich erreicht hat. Er will Lob für normales Verhalten und wird ausfällig und beleidigend, wenn man ihn nicht ständig wegen alltäglicher Banalitäten lobt und ihn zu seinen Fortschritten beglückwünscht. Jeden noch so kleinen Erfolg wird er aufblasen und er erwartet dafür sofort die bedingungslose Bestätigung, wie herrlich er ist.

Am Anfang wird der Narziss sein Opfer mit Zuneigung überhäufen. Er tut so, als wäre er der tollste Mensch auf Erden. Wenn er dann sicher sein kann, dass der andere abhängig ist, zeigt sich sein wahres Ich. Dann wird er zum Jammerlappen, der nur eine Trumpfkarte kennt: Mitleid. Er wird von seinen Problemen berichten. Wer diese Probleme nicht als Ausrede für sein Versagen oder Fehlverhalten akzeptiert, wird als schlechter Mensch bezeichnet. Mancher Narziss täuscht sogar eine Krankheit vor, um das zu bekommen, was er will.

Der andere ist immer schuld: „Ich bin depressiv und habe Angststörungen. Darum trinke ich. Du kümmerst dich ja nicht um mich und willst mir nicht helfen. Du kannst immer nur meckern.“

Ein Narziss besitzt keine Empathie. Er kann nicht für andere mitdenken oder das Beste für andere wollen. Er hat kein Interesse am anderen, solange der nicht nach seiner Pfeife tanzt oder Dinge tut, die dem Narziss nicht gefallen oder Angst machen. Das Einzige was man tun kann: diese Menschen meiden.

 

P. OVIDI NASONIS
METAMORPHOSEON LIBRI – LIBER TERTIVS (versus 362-510)
NARCISSVS ET ECHO

Die Geschichte ist lang – zu lang. Daher beschränke ich mich aufs Wesentliche und erzähle kurz in eigenen Worten, was eigentlich los ist:

Wieder einmal liefert Zeus den Anlass für Ärger. Man muss wissen, dass er, der „Göttervater“ und Vorstandsvorsitzende der Olympischen (das herrschende Göttergeschlecht, das im klassischen Griechenland auf die Titanen folgte), ein rechter Schürzenjäger war, zahlreiche (wirklich zahlreiche!) uneheliche Kinder mit ebenso zahlreichen Damen zeugte und dass seine Gattin Hera (nebenbei auch seine Schwester) sein Verhalten alles andere als komisch fand und im Grunde wegen ihrer ständigen Wutanfälle und Eifersucht eine chronisch entzündete Galle hatte. Das rechtfertigt zwar keineswegs ihre ausgeprägte Rachsucht und ständig schlechte Laune, mag aber als Erklärung weiterhelfen.

Zeus vergnügte sich in seiner Freizeit recht gern auf Bergwiesen mit am besten immer gleich mehreren Nymphen. Diese Geschöpfe muss man sich als ziemlich unschuldige, junge Dinger vorstellen, die ein bisschen Naturzauberei beherrschen, ansonsten aber gern einfach nur chillen und Spaß haben wollen. Das gefiel Zeus sehr. Der wollte auch immer nur spielen. Nicht umsonst hatte er einen Haufen unehelichen Nachwuchs mit diversen Nymphen. Weil nun die aus oben erwähnten Gründen ständig auf Krawall gebürstete Hera (lateinisch: Juno) eines Tages auf der Suche nach ihrem untreuen brüderlichen Ehegatten (den die Lateiner übrigens Jupiter nennen) ausgerechnet auf die Bergwiese zusteuerte, auf der Zeus gerade eine Gang-Bang-Party… na ja…, versuchte die kleinste der Nymphen, ein eigentlich ganz bezauberndes, wenngleich ein wenig geschwätziges und naseweises Mädchen namens Echo, die vor heiligem Zorn schäumende Alte ein bisschen aufzuhalten und in ein Gespräch zu verwickeln, damit Zeus durch diese Verzögerung ausreichend Gelegenheit hatte, um sich aus seiner zärtlichen Mission zu lösen, den lüsternen Leib angemessen zu bedecken und die Frisur zu restaurieren.

Das Vorhaben gelang zur Zufriedenheit Zeus‘ soweit ganz gut. Der konnte sich durch Echos mutiges Eingreifen noch schnell vom Acker machen, aber Hera war nicht nur stinkwütend, sondern auch alles andere als blöd und so merkte sie natürlich sofort, was da im Kornfeld gespielt worden war, auch wenn sie es ihrem sauberen Gatten nun nicht mehr beweisen konnte. Denn der war weg. Ausbaden musste die Sache schließlich die arme, geschwätzige, kesse, kleine Nymphe, die von der ganzen Sache noch nicht einmal etwas hatte:

( … ). postquam hoc Saturnia sensit,
‚huius‘ ait ‚linguae, qua sum delusa, potestas
parva tibi dabitur vocisque brevissimus usus,‘

365

Nachdem die Saturnierin das bemerkt hatte,
sagte sie: „Die Macht dieser Zunge, mit der ich an der Nase herumgeführt worden bin,
wird dir nur noch wenig nützen in ganz kurzem Gebrauch!“

(Anm.: Hera war die Tochter von Kronos – lateinisch: Saturn; daher die Bezeichnung als „Saturnierin“)

Zeus war inzwischen selbstverständlich längst wieder zuhause auf dem Olymp, nahm ein Bad und ließ sich die Fußnägel schneiden und dachte sich vermutlich: „was interessiert mich das dumme Ding da unten, das jetzt Ärger mit meiner Alten hat. Ich hab‘ sie nicht gebeten sich einzumischen.“

Von diesem Moment an konnte die bedauernswerte kleine Nymphe keine eigenen Sätze mehr formulieren. Sie war von Hera dazu verdammt worden, nur noch den letzten, kurzen Teil von dem, was ein anderer zu ihr sagte, wiederholen zu können – zu mehr als einem Echo war die kleine Echo nicht mehr in der Lage. Schönen Dank dafür!

Man wird sich denken können, dass jemandem, der in erster Linie nur sich selber liebt, eine derart einseitige Gesprächsführung kaum Begeisterung entlockt und es einem Egoisten sehr schnell viel zu langweilig wird, wenn ein anderer immer nur nachplappert anstatt ihn mit Lobgesängen in den höchsten Tönen zu verehren und bewundern.

Dummerweise verliebt sich die arme Echo schließlich mit ihrer göttlich verordneten Behinderung ausgerechnet in genau solch einen egoistischen Pfau, einen jungen, schönen Mann namens Narziss, dem sie „auf pfadloser Flur“ – per devia rura vagantem – mitten im Wald auf der Jagd mit seinen Kumpels begegnet. Heimlich folgt sie ihm, von heißer Liebe überwältigt, immer weiter ins Dickicht und ihre Sehnsucht nach ihm wird dabei immer drängender – Ovid vergleicht ihr tiefes Begehren mit einer Fackel, deren Flamme sich schnell und mit großer Hitze spontan entzündet, wenn man Schwefel auf die Spitze der Fackel schmiert und sie danach lediglich in die Nähe des Feuer bringt (Verse 370 bis 374). Als der misstrauische Narziss schließlich nach einiger Zeit spürt, dass ihnen die ganze Zeit schon jemand folgt,

dixerat: ‚ecquis adest?‘ et ‚adest‘ responderat Echo.

380

ruft er „wer ist da?“ und Echo antwortet ihm „ist da“,

obwohl sie ihm eigentlich ganz andere Dinge viel lieber sagen würde. Die Situation wird ihm immer unheimlicher, das dumme Spiel Frage – Echo – Frage– Echo geht eine Zeitlang hin und her, bis die Kleine schließlich ihren ganzen Mut zusammennimmt und sich aus ihrem Versteck heraus traut. Die Hoffnung, dass er ihre Gefühle erwidert, bewahrheitet sich leider nicht. Im Gegenteil: voller Schreck, was er sich da wohl für einen seltsamen, sprachlosen Dämon im Wald aufgegabelt hat, reißt er sich von ihr los und verschwindet. Das arme Ding bleibt einsam und innerlich zerstört zurück und geht an der unerwiderten Liebe zugrunde:

ille fugit fugiensque ‚manus conplexibus aufer!
ante‘ ait ‚emoriar, quam sit tibi copia nostri‘;
rettulit illa nihil nisi ‚sit tibi copia nostri!‘
spreta latet silvis pudibundaque frondibus ora
protegit et solis ex illo vivit in antris;

Er aber flüchtet und schreit „nimm deine grabschenden Pfoten weg von mir
Vorher sterb‘ ich, als dass ich deine Beute werd‘!“
Sie erwidert bloß: „dass ich deine Beute werd‘!“
Die Verstoßene versteckt sich im Wald und bedeckt mit Laub
ihr verschämtes Gesicht, und lebt von da an in einsamen Höhlen.

390

sed tamen haeret amor crescitque dolore repulsae;  
extenuant vigiles corpus miserabile curae
adducitque cutem macies et in aera sucus
corporis omnis abit; vox tantum atque ossa supersunt:
vox manet, ossa ferunt lapidis traxisse figuram.

Trotzdem frisst die Liebe in ihr und wächst durch den Schmerz der Verschmähten.
Rasender Kummer vergiftet das welke Geweb;
In Siechtum zerfällt ihre Haut, und in die Lüfte zerstaubt
ihr ganzer Leib. Nur noch Stimme ist übrig und Knochen,
aber die Stimme, sie bleibt. Zu Gestein, so sagt man, wurden die Knochen.

395

inde latet silvis nulloque in monte videtur,  
omnibus auditur: sonus est, qui vivit in illa.

Seit dieser Zeit verbirgt sich das Echo im Wald, wird auf keinem Berg mehr gesehen,
Zwar kann man sie hören, es ist jedoch nur noch der Schall, der da fortlebt in ihr.

400

Narcissus ergeht es am Ende nicht viel besser. Eines Tages erblickt er in demselben Wald, in dem Echo als Schall dahinvegetiert, sein Spiegelbild im Wasser einer einsamen Quelle und wird zur Strafe für seine Unfreundlichkeit der armen kleinen Nymphe gegenüber von den Göttern mit Liebe zu sich selbst geschlagen. Ovid beschreibt sehr ausführlich seine Augen, die ihm im Spiegel der Wasseroberfläche wie Sterne vorkommen, wie er von seiner Frisur entzückt ist, wie toll er seinen elfenbeinfarbenen Hals findet, sein glattes, bartloses Gesicht, seine schönen Wangen, die in zarter Errötung entflammt sind von Liebe. Und so weiter.

Als er versucht, den schönen Jungen anzufassen und dabei seine Hand ins Wasser taucht, verschwindet das Bild natürlich. Auch als er den Jungen küssen will, gelingt das begreiflicherweise ebenso wenig. Er wird wütend und beschimpft den anderen, wie der nur so kaltschnäuzig sein kann und im entscheidenden Moment immer verschwinden muss, wo er selbst doch sogar von den Nymphen geliebt wird und daher wirklich etwas Besonderes ist. Da schau her, auf einmal fällt dem Narziss die arme, verlassene Echo wieder ein!

Seine Tränen fallen schließlich ins Wasser und verzerren das Spiegelbild aufs Neue. Aus Trauer darüber, dass sein Geliebter sich schon wieder entzieht, zerfetzt er sein Hemd und schlägt sich die eigene Brust blutig. Da bemerkt er endlich entsetzt, dass dieser schöne Junge nichts weiter war als sein eigenes Spiegelbild. Voller Trauer über seine tiefe Einsamkeit und die verlorene Liebe will er nicht mehr länger leben.

Zuletzt erscheint noch einmal das, was von Echo übrig ist: ihr Schall, der durch die Wälder zieht. Und auch, wenn sie eigentlich immer noch zornig ist wegen der billigen Art und Weise, mit der Narziss sie damals hat stehen lassen, empfindet sie jetzt tiefes Mitleid und wiederholt seine letzten Worte – zu mehr sie wegen Heras Fluch ja nicht mehr fähig – aber sie tut es voller Trauer und Inbrunst: „wehe“ und „umsonst geliebt“ und „leb wohl“.

Kraftlos sinkt nun Narcissus, der Sohn der Wassernymphe Leiriope, neben der Quelle ins Gras nieder und stirbt, den letzten Blick auf das eigene Spiegelbild gerichtet. Seine Schwestern, die Najaden (in der griechischen Mythologie Nymphen, die über alle stehenden und fließenden Gewässer wachen) trauern ebenso wie die Dryaden, die Baumgeister des Waldes und wollen den armen unglücklichen Jungen bestatten:

iamque rogum quassasque faces feretrumque parabant:
nusquam corpus erat; croceum pro corpore florem
inveniunt foliis medium cingentibus albis.

Schon errichteten sie den Scheiterhaufen, gespaltene Kienspäne und die Totenbahre
der Körper aber war nicht mehr da. Anstelle der Leiche finden sie
eine Blume, safrangelb in der Mitte, umgeben von schneeweißen Blüten.

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P. Ovidi Nasonis, Metamorphosen, Buch III, auf The Latin Library (Externer Link)

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