„Kunst hat die Aufgabe wachzuhalten, was für uns Menschen so von Bedeutung und notwendig ist.“
2018, Acryl auf Papier, 48 x 66 cm
– Michelangelo
21. März 2021
Wenn es schon um so etwas Wichtiges und Erhabenes wie den Weltgeist geht – wie ist das dann eigentlich mit den Bösewichten der Geschichte, denen, die sich als Repräsentanten oder gottgleiche Besitzer ganzer Völker sehen? Waren oder sind die alle verrückt? Freilich ist es nicht normal, Kriege, sogar Kriege gegen das eigene Volk anzuzetteln, chemische Kampfstoffe über die eigenen Leute zu schütten oder Völkermord an missliebigen entfernten Verwandten zu begehen, ebenso wenig wie als politischer „Freund“ solchen Verbrechern gar noch aus Eigeninteresse beizuspringen und sie aus bösartigen Überlegungen heraus zu unterstützen und vor Repressalien zu schützen. Es ist auch nicht normal, die eigenen unbequemen Kritiker von Mordkommandos zerlegen zu lassen, seine fanatischen Anhänger zum Sturm auf das Symbol der Repräsentanz des eigenen Volkes zu ermuntern oder einer ganzen gehirngewaschenen Gesellschaft die Frage zu stellen, ob sie vielleicht gerne den totalen Krieg hätte. Die Aufzählung ließe sich noch eine ganze Weile fortsetzen.
Aber sind diese fragwürdigen Gesellen alle krank? Ganz sicher nicht. Wenn das so wäre, könnte man diese sauberen Herrschaften ja mit wenig Aufwand für schuldunfähig erklären. Gewiss sind all diese Leute monströse Verzerrungen der Humanität, voller Größenwahn und Hass, besessen von Aggression und Vernichtung, aber eben nicht krank. Wäre das so, ließen sich alle selbstgemachten Katastrophen der Geschichte und Neuzeit mit ein bisschen psychologischer Betreuung verhindern, mit ein paar Psychopharmaka hier und ein wenig Arbeitstherapie da.
So einfach ist die Sache eben nicht. Denn diese Verbrecher sind leider allesamt schrecklich normal. Wären sie psychisch krank, wären sie alle nicht in der Lage dazu gewesen, die langjährigen selbstgestrickten Prozesse der Zerstörung mit ihren Kräften überhaupt durchzuhalten. Es braucht nämlich eine ordentliche Portion Kommunikation, viel an populistischer Wortkunst und jede Menge verbissener Zielorientiertheit, um Menschen mit Psychotricks an sich zu binden, sie über eine lange Zeit emotional zu missbrauchen und schließlich ganze Staaten in Kriege zu jagen. All das ließe eine psychische Störung überhaupt nicht zu.
Das darf nicht von der Tatsache ablenken, dass diese Herrscher, die den Weltgeist für sich selbst und ihr schändliches Tun beanspruchen, zutiefst böse sind. Und so führt der Gedanke von den vermeintlich geisteskranken historischen Personen fast schon automatisch zu denjenigen, die in der Gesellschaft als die eigentlich psychisch Kranken bezeichnet werden.
Wenn man sich nämlich die etwas genauer anschaut – die Menschen, die in ihrer Demenz geradezu rührend sind, oder diejenigen, die mit Depressionen kämpfen und sich dabei als unglaublich empfindsam und verletzlich erweisen, wenn man sich Suchtkranke anschaut, die in der Lage sind, überdurchschnittlich feinfühlig auf jede Art von Situation zu reagieren oder die Manischen, die mit ihrer überbordenden Dynamik schnell für einen Beobachter hinreißend werden können – und wenn man demgegenüber abends vor dem Fernseher oder morgens in der Tageszeitung von blutrünstigen und korrupten Kriegshetzern in Büroattrappen erfährt, von gewissenlosen Wirtschaftskriminellen, die ihr Mandat und ihre Position dazu benutzen, nebenbei kräftig Kasse zu machen, oder von rücksichtslosen Egomanen in ovalen und nicht-ovalen Büros, dann kann sich einem schon die Erkenntnis aufdrängen, dass nicht die Verrückten das Problem der Gesellschaft sind sondern die Normalen.
Schließlich gibt es nicht nur diesen weiter oben betrachteten ganz normalen Wahnsinn einiger weniger wie Stalin, Ceaușescu oder anderer mächtiger Ungeheuer des 21. Jahrhunderts, sondern auch all die vielen wahnsinnig normalen Menschen. Leute, die auf Teufel-komm-raus immer und ständig en vogue sein müssen, die dem Trend der Massen so schrecklich gern hinterherlaufen und so zu bewusstlosen Mitläufern werden. Leute, die immer genau wissen, was man im Brustton selbstgerechter Zufriedenheit sagen muss und was man auf keinen Fall sagen darf. Diese wahnsinnig Normalen klatschen gern Beifall, wenn sie gehäuft auftreten. Und dann jubeln sie tatsächlich allem zu, was man ihnen als gut und richtig verkauft, notfalls auch einem Russen oder Chinesen oder Syrer oder Türken oder Nordkoreaner. Dann stehen sie alle stramm, diese wahnsinnig Normalen, von sich selbst überzeugt und vor irgendeinem abscheulichen Repräsentanten des ganz normalen Wahnsinns und fühlen sich wohl dabei.
Wer Teile seiner Lebensgeschichte oder Teile seines Selbst von sich abspaltet, der ist psychisch gestört. So definiert das zumindest die moderne Psychoanalyse. Leider ist eine Gesellschaft, die das Verrückte in ihr lediglich absondert und in wortreich schöngeredeten separaten Bereichen von Pflegeprofis versorgen lässt, ist eine Gesellschaft, die für sich selbst ein intolerantes Selbstbild von sogenannter Normalität als schönen bunten Fassadentraum definiert, tief drinnen weder souverän noch selbstsicher. Eine solche Gesellschaft ist latent aggressiv, weil bei ihr sämtliche Alarmglocken als Reaktion auf jeden einzelnen zu schrillen beginnen, der es wagt, ein wenig an dieser bunten Fassade zu kratzen. Eine solche Gesellschaft ist zutiefst beunruhigt, wenn es darum geht, Unbequemlichkeiten jenseits verordneter Denkgebote zu diskutieren. Dann ist sie geradewegs auf dem besten Weg zu einer Diktatur des Normalen, wenn sie die eigene Unsicherheit mit dünnen Parolen und leer gewordenen Worthülsen überspielt und alles, was von der vorgegebenen Meinung abweicht, ebenso filigran wie rücksichtslos bekämpft.
Die Psychoanalyse lehrt also, dass Menschen schwer gestört sind, wenn sie Teile ihrer Lebensgeschichte oder ihrer psychischen Existenz von sich abspalten. Eine ebensolche grundlegende Störung, die die Psychoanalyse bei der Einordnung schwer gestörter Menschen feststellt, muss man mithin auch in einer derartigen Gesellschaft verorten, wenn sie das Verrückte in ihr lediglich stigmatisiert und aussondert und sich gleichzeitig ein starres, intolerantes Selbstbild von Normalität zulegt, das nichts weiter als geistlose Fassade ist. Eine auf diese Weise selbstunsichere Gesellschaft wäre nicht souverän und gelassen, sondern bei jedem Kratzen an dieser Fassade bereits zutiefst beunruhigt, latent aggressiv und damit auf dem besten Weg zur Diktatur der Normalität, die die eigene Unsicherheit mit schlichten Parolen überspielt und alles Abweichende rücksichtslos bekämpft. Eine besondere Tragik entwickelt in diesem Zusammenhang die traurige Präsenz der neu aufkommenden Phänomene „alternative Fakten“, „postfaktischer Wahrheiten“ oder der unverblümten „Lüge als Meinung“. Derartige Fehlentwicklungen menschlicher Kommunikation müssen als fatale und errative Reaktionen auf diese Entwicklung gesehen werden. Eine abweichende aber dennoch nachvollziehbare Meinung wird sich in einer toleranten Atmosphäre gesellschaftlich erwünschter und nicht nur als dünnes Lippenbekenntnis geduldeter Meinungsvielfalt jedenfalls kaum auf die dunkle Seite der Macht schlagen müssen, wenn sie sich – von Anfang an ernstgenommen – selbstbewusst präsentieren darf und nicht nur verzerrt bis zur Unkenntlichkeit und inhaltlich reduziert hinter sich immer stärker verhärtenden gesellschaftlichen Fronten als Baum der verbotenen Frucht existieren muss. Dieser Tage beklagen Philosophen wie Habermas bereits, dass die Menschen des jungen 21. Jahrhunderts schon lange nicht mehr so frei reden können, wie es noch vor nur fünfzig Jahren ganz selbstverständlich war. Die Gesellschaft ist inzwischen mit höchst modernistischen Methoden subtil uniformiert worden, hat mit dem Instrument der sogenannten Political Correctness mittlerweile so gut wie sämtliche Bereiche des Lebens unter Kontrolle und sorgt in dem selbstgerechten Wahn, die Wahrheit des Weltgeistes mit goldenen Löffeln gefressen zu haben dafür, dass die sogenannte Öffentlichkeit nur allzu gern und gnadenlos über Menschen herfällt, die sagen, was man nicht sagen dürfen soll.
Genau das aber machen Menschen mit psychischen Störungen, denn bei denen laufen alle Versuche eines verordneten Uniformzwanges ins Leere. Und letztlich tun sie der Gesellschaft damit etwas Gutes. Sie sorgen dafür, dass eine Gesellschaft nicht nur ein einziges menschliches Gesicht besitzt. Sie lassen sich nicht uniformieren. Damit erweisen sie uns allen einen großen Dienst, denn sie geben der Gesellschaft gezwungenermaßen ganz viele unterschiedliche menschliche Gesichter. Die sind zwar alle chaotischer, leidvoller und erschütternder, aber auch deutlich weniger menschenverachtend als die auf Hochglanz polierte Normalität. Und daher sondert man sie aus. Denn über all ihre Geisteskranken hinweg zelebriert eine mitleidlose Gesellschaft ihren Tanz auf dem Vulkan und sie erweist sich als nachhaltig blind und taub für die wichtigen Fragen des Weltgeistes. Tragisch und traurig bleibt dabei eines: sie hält in ihrer Tyrannei sowohl Blindheit als auch Taubheit für ganz normal.