Eine Fleischereifachverkäuferin im Faschingstreiben.
2017, Acryl auf Faserplatte, 84 x 59 cm.
Februar 2018
Am Faschingsdienstag war Herr W. kurz vor zwölf Uhr auf dem Weg zu seiner Lieblingsmetzgerei am Alten Markt. Er wollte sich ein paar Weißwürste holen. Man musste sie vormittags kaufen, hieß es immer, denn nach dem Mittagsläuten verdarben sie schnell und waren dann ungenießbar. Er stellte sich vor, wie er sie eine Viertelstunde in heißes, auf keinen Fall kochendes Wasser legen und sanft ziehen lassen würde, bis er sie endlich durch und durch heiß und gar und unversehrt und prall auf seinen Teller legen, und sie eine nach der anderen in den typischen bayerischen süßen, grobgemahlenen, nach Malz schmeckenden Senf tunken und langsam aussaugen würde. Diese Speise, dachte er bei sich, als er die Metzgerei betrat, konnte man als zivilisierter Mensch unmöglich in Gesellschaft essen, denn das „Zuzzeln“, als was alteingesessene, schnupftabaksbärtige Bayern den Vorgang dieser traditionellen Nahrungsaufnahme bezeichneten, war einfach eine unappetitliche Art, etwas zu verspeisen.
Als gesitteter Mensch hätte er niemals unter den kritischen Blicken anderer Leute etwas aus dem Mund wieder herausgezogen, was er sich kurz zuvor senftropfend und mit fettigen Fingern dort hineingeschoben hatte. Auf andere Art, unter zivilisierter Zuhilfenahme von Messer und Gabel, konnte man diese saftigen, prallen Dinger mit dem zitronenzarten Hauch an einem Geschmack von Nichts – weswegen dieser süße Senf als Korrigentium unabdingbar war – auf keinen Fall zu sich nehmen, und darum blieb ihm nur der einsame gelegentliche Genuss des Weißwurstzuzzelns unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Er blickte sich um. Die Metzgerei war zu dieser späten Vormittagsstunde menschenleer. Wer weiß, dachte er sich, wer am Faschingsdienstag außer mir überhaupt zuhause bleibt, womöglich gar selbst kocht und sich nicht in das wilde Kehraustreiben in den Straßen der Stadt wirft, um da und dort etwas zu essen, was die seit Wochen zahlreich aufgebauten Wurstbuden und Hendlbratereien an Leckereien anbieten.
Auf unbehagliche Weise spürte er plötzlich, dass er beobachtet wurde. Aus dem Nichts war eine ihm unbekannte Verkäuferin hinter der Theke aufgetaucht, die er noch nie zuvor bemerkt hatte. Sie war, sofern man einen Mitteleuropäer und keinen haarigen Yeti aus dem Himalaya als Vergleich heranzog, geradezu riesig, mit einem weißfleischigen, prallen Gesicht, in dem kleine geplatzte Äderchen die gefrorenen Wangen fast violett erscheinen ließen. Ihre eng zusammenstehenden, tiefliegenden, wimpernlosen Augen waren schwarz geschminkt und sie füllte mit ihrer unübersehbaren Erscheinung die seltsame Verkleidung, in der sie steckte, vollständig aus, ganz so wie die prall gefüllte Pelle einer Weißwurst in allzu heißem Wasser, kurz, bevor es sie zerreißt. „Ein Viertelpfund von der groben Fetten!“ Der alte, blöde Metzgerwitz kam ihm in den Sinn. „Tut mir Leid, die ist heut‘ in der Berufsschule. Wie kann ich Ihnen helfen?“
Die letzten Worte rissen ihn aus seinen Gedanken. Die Frau blickte ihn durchdringend und auf eine nicht näher bestimmbare Art bösartig an, gerade so als hätte sie seine Gedanken gelesen und begriffen, dass sie selbst die grobe Fette aus seiner Erinnerung an den dummen Witz war. „Drei Paar Weißwürste bitte!“ Die viel zu dicken, viel zu kurzen Finger an ihren viel zu kleinen Händen in weißen Latexhandschuhen, die prall aus den viel zu weiten Kimonoärmeln hervorlugten, sahen gerade so aus wie die Weißwürste, die sie in diesem Moment schwerfällig und schnaufend aus der Schüssel in der Theke herausgrabschte. Herrn W. wurde ein wenig übel. Er mochte sich gar nicht vorstellen, wie die zum Platzen gefüllten Latexhandschuhe stumpf abgekaute Fingernägel an den feuchtheiß aufgequollenen weißlichen Speckfingern vor den Blicken anderer verbargen und versuchte krampfhaft, sich auf die Weißwürste zu konzentrieren, die jetzt wie ein schlaffes Knäuel fahlen Gedärms von der Linken der Frau tropfend herabhingen.
„Heit‘ genga ma olle z’samm zum Fasching. I geh‘ als a Geisha“ sagte sie und in ihrem runden Gesicht blitzte so etwas wie hämische Bosheit auf. Sie hat tatsächlich „Gais-ha“ gesagt, dachte Herr W. „Mir samma scho olle in da fria um Sechse Maschkara ganga,“ ergänzte sie unnötigerweise, als sähe man nicht ohnehin auf den ersten Blick, dass dieser Kimono unmöglich die übliche Arbeitskleidung sein konnte.
„Sehr authentisch, die Frisur,“ bemerkte Herr W. mit belegter Stimme und räusperte sich, um dem Würgereiz in seinem Hals Herr zu werden. Die Geisha erstarrte in ihrer trägen, knisternden Bewegung und schaute ihn verständnislos mit leerem, blutunterlaufenem Blick an. Ihr kleiner Mund öffnete sich einen schmalen Spalt und Herr W. bemerkte mit Abscheu, dass Ihre Mundwinkel schorfig entzündet und verklebt waren. Diese Mundwinkelrhagaden haben meist entweder eine allergische Kontaktdermatitis als Ursache, dachte er sich, oder sie sind auf eine bakterielle Infektion mit Staphylococcus aureus oder eine Pilzinfektion mit Candida albicans zurückzuführen. Er riss sich zusammen und sagte: „Passt sehr gut zu Ihnen und der Verkleidung, die Frisur, meinte ich“. Er spürte, wie ihr starrer Blick seine Achseln feucht werden ließ. „A so! Des moana Sie“ Sie griente sich wieder zurück in ihr schiefes, boshaftes Lachen und verzog dabei die fetten Backen. „Is‘ bloß a Parucke, a oide Peppi vo da Omam. D’Muada hat ma’s zuag’richt. I ko sowas ned aufstecka.“ „Passt sehr gut zu Ihnen“ repetierte Herr W. in stiller Ermattung seine vorherige Bemerkung. An ihrem Kimono bemerkte er dort, wo der Wulst ihrer Brüste in einer einzigen fließenden Wölbung prall und ohne erkennbaren Übergang zum Bauch wurde, ein paar kleine Blutspritzer. „Wem hast du da wohl die Gurgel durchgeschnitten?!“ schoss es ihm verstört durch den Kopf. Schnell bezahlte er die geforderte Summe, ließ das wenige Wechselgeld liegen und ging erleichtert zum Ausgang. Ohne den Blick nochmals zu wenden, wünschte er ihr geistesabwesend noch viel Spaß im Faschingstreiben. Beim Öffnen der Tür nahm er im Augenwinkel wahr, dass sie ihm nachschaute und dabei die kleinen tiefliegenden Augen leicht zusammenkniff, als wolle sie die Entfernung zu ihm abschätzen, ganz wie ein Bogenschütze, der seine Zielscheibe anvisiert.
Zurück auf der Straße musste Herr W. zunächst stehenbleiben und ein paar Mal tief einatmen, um das aufkommende Schwindelgefühl zu bekämpfen. Mit festen Schritten ging er schließlich davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Die Papiertüte mit den Weißwürsten legte er einer alten Frau, die ihm mit ihrem Rollator langsam entgegenkam, in einer schnellen, flüchtigen Bewegung in das Einkaufskörbchen und lief, ohne eine Reaktion abzuwarten, fiebernd weiter.
Fröstelnd stellte er sich an der Bushaltestelle unter das Schutzdach, obwohl gerade die bleiche, spätwinterliche Sonne zwischen den Wolken hervorbrach und suchte mit fahrigen Bewegungen in seinen Taschen nach einem der einzeln verpackten feuchten Erfrischungstücher, die er immer in ausreichender Menge bei sich trug, um sich die Hände zu säubern. In diesem Augenblick fuhr der Bus vor und die automatischen Türen öffneten sich wie ein lang ersehnter und nur für wenige Auserwählte sichtbarer Zugang zur Himmlischen Dreifaltigkeit.
Die Geschichte ist so unglaublich morbid und gemein und boshaft, dass man sie unbedingt mehrmals lesen muss!