AIDS/HIV seit 1980 – Retroviren der Gattung Lentivirus – ca. 36 Mio. Tote
2017, Acryl und Gouache auf Karton, 66 x 48 cm
14. März 2021
Etwa 40 Millionen Menschen sind heute mit HIV infiziert. Für ein Virus, gegen das sehr lange Zeit kein Kraut gewachsen war, ist das eine eher schwache Leistung. Das liegt an einer Besonderheit des HIV-Virus: erstens überträgt es sich verdammt schlecht und zweitens kommt es selbst nach einer Infektion keineswegs automatisch immer zu einer Vermehrung im Körper des Wirtes. Anders als bei Grippe oder den immer aggressiveren sogenannten Corona-Variationen genügt es bei HIV nicht, ohne Atemschutzmaske an der Kasse zu niesen, in der Kirche gemeinsam inbrünstig zu singen oder jemanden bei Demos anzuspucken. Auch körperliche Nähe allein, selbst Umarmungen oder Berührungen führen nicht zu einer Ansteckung, ebenso wenig wie das Trinken mehrerer Personen aus einer gemeinsamen Flasche oder einem Glas. Dafür braucht es schon deutlich mehr, den Kontakt von Körperflüssigkeiten mit- und untereinander nämlich. Das kann bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr der Fall sein, bei der Benutzung ein- und derselben Spritze von mehreren Menschen, bei Kontakt mit dem Blut eines anderen, wenn man gleichzeitig selbst eine blutende Verletzung an der Kontaktstelle hat oder bei der Geburt. Außerdem überträgt sich das Virus nicht wie die Pest bei einem Flohbiss oder wie die Malaria durch den Stich einer kontaminierten Mücke.
Erstmals war AIDS Mitte 1981 von amerikanischen Ärzten beschrieben worden. Kurz danach fiel Wissenschaftlern eines Affenforschungslabors in Boston auf, dass einige ihrer Versuchstiere Merkmale aufwiesen, die eine sehr große Ähnlichkeit mit der kurz zuvor bei AIDS-Patienten beschriebenen Symptomatik aufwiesen. Bei weiteren Untersuchungen entdeckte man einen Virusinfekt bei den Schimpansen, der ebenfalls überraschend ähnlich zu dem war, was man bislang vom HIV-Virus wusste. Man nannte dieses Virus SIV – statt „human“ verwendete man „simian“ – von lat. simia = der Affe.
Bald darauf fand man heraus, dass frei-lebende afrikanische Affenpopulationen mit mindestens vierzig unterschiedlichen Typen von SIV im Blut lebten und oft nicht einmal Symptome einer Erkrankung aufwiesen. Die Schimpansen im Südwesten von Kamerun trugen einen SIV-Stamm, der im Grunde identisch war mit dem HI-Virus. Das war vermutlich der Ursprung des Virus. Aber wie? War jemand vom Affen gebissen worden oder hatte jemand einen Affen aufgefressen? Beides wäre natürlich prinzipiell möglich gewesen, denn beides kam und kommt bis heute vor.
Der genetische Unterschied zwischen Schimpansen und Menschen ist tatsächlich verschwindend gering. DNA-Vergleiche beider Arten belegen, dass die Gensequenzen zu 98,8% identisch sind. Das bekannteste Beispiel in diesem Zusammenhang ist das Sprachgen FOXP2. Bei diesem Gen handelt es sich um ein Entwicklungsgen, das im Genom vieler Tiere durchaus hoch konserviert ist, das heißt verbreitet vorkommt, bei der Evolution vom Schimpansen zum Menschen jedoch plötzlich an zwei entscheidenden Stellen einen Austausch von Aminosäuren aufweist. Man hat dieses Gen durch eine Mutation bei einem in der medizinischen Forschung „berühmten“ Familienclan entdeckt. In diesem Familienverband wird ein schwerer Sprachfehler dominant vererbt, der in einen grundlegenden neurologischen Funktionsdefekt mündet. Grundlegend bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Mitglieder dieser Familie, die diesen Gendefekt besitzen, nicht nur nicht in der Lage sind, irgendeine Form von akustischer Sprache zu erlernen, sondern auch keine Zeichensprache, wie sie beispielsweise bei Taubstummen genutzt wird.
Wegen der hohen genetischen Konkordanz zwischen Schimpanse und Mensch wurden die Tiere besonders zu Anfang des 20. Jahrhunderts stets und häufig für medizinische Versuche missbraucht. Es waren dabei keineswegs nur die Affen, denen man menschliches Blut infundierte, um verschiedene Dinge zu testen, sondern die Versuche liefen genauso andersherum: auch Menschen wurden Körperflüssigkeiten von Affen injiziert ja sogar Schimpansenorgane wurden Menschen in Notfällen transplantiert.
Nun sind solche Einzelfälle – das Essen von Schimpansenfleisch, der Biss eines Affen oder medizinische Experimente im begrenzen Umfang nicht besonders geeignet, bei einem derart schwer übertragbaren Virus eine Epidemie auszulösen, denn die meisten dieser Infektionen dürften von selbst ausgestorben sein, nachdem die auf welchem Weg auch immer Infizierten an den Folgen von Aids gestorben waren, ohne das Virus an eine größere Zahl von Menschen weiterzugeben. Warum gelang es dem Virus dann aber doch, sogar eine Pandemie in allen Kontinenten auszulösen?
Bei der Vermehrung von Viren im Körper ihres Wirts geschehen Fehler beim Lesen der Baupläne. Das kann gut oder schlecht für das Virus sein. Wenn der Fehler bei der Analyse seiner Gensequenz in der Wirtszelle an einer Stelle passiert, die für sein „Überleben“ (Viren „leben“ nicht!) auf jeden Fall unveränderbar ist, dann entstehen nicht überlebensfähige Viruskopien. Die Infektion findet nicht statt und man merkt gar nicht, dass man angesteckt wurde. Aber es gibt natürlich auch Fehler, die der neu entstandenen Viruskopie durch einen dummen Zufall auf irgendeine Art und Weise mehr Kraft, mehr Raffinesse als ihrem Vorgänger oder sonst einen entscheidenden Vorteil verleihen. Das sieht man aktuell an B.1.1.7, der britischen, an B.1.351, der südafrikanischen, an P.1-20J/501Y.V3, der brasilianischen oder an CAL.20C, der kalifornischen Variante von COVID-19, die – in diesen Fällen durchaus zu ihrem Vorteil – bei der Vermehrung fehlerhaft, aber erfolgversprechender kopiert wurden und damit auf jeden Fall anders als der Wildtyp sind. So entstehen – je nach Art des Virus oft oder weniger oft oder schnell oder nicht so schnell – immer neue Virusvarianten, was zum Beispiel auch ein Grund dafür ist, dass jedes Jahr eine neue, an die Veränderungen im Genom des Grippevirus angepasste Grippeimpfung verabreicht werden muss.
Ein Verfahren, das man auch als „molekulare Uhr“ bezeichnet, berechnet die Geschwindigkeit, mit der sich ein Virus – in unserem Fall jetzt wieder das HI-Virus – verändert. Hat man mehrere Varianten zur Verfügung, kann man aus ihnen Rückschlüsse auf die letzten noch gemeinsam identischen Virusvarianten ziehen. Das Ganze ist also eine Art virale Ahnenforschung.
Mit dieser Methode schließlich konnte man belegen, dass sich der erste Mensch bereits kurz nach dem ersten Weltkrieg zwischen 1919 und 1920 mit dem Virus infiziert haben muss. Damals herrschten die Europäer als Kolonialmächte in Zentralafrika. In genau dieser Zeit gab es bei den Machthabern große Anstrengungen, die typischen Tropenkrankheiten Malaria, Gelbfieber oder Schlafkrankheit in ihren Kolonien zu besiegen. Im Kongo und in Kamerun wurden den Menschen daher in großangelegten Kampagnen intravenös Medikamente gespritzt. Natürlich kannte man damals die viralen Übertragungsmechanismen noch nicht, und weil Spritzbesteck und vor allem Injektionsnadeln reichlich knapp waren, verwendete man sie immer und immer wieder, bis sie stumpf waren, leider ohne sie jedes Mal hinreichend zu sterilisieren. In der Zentralafrikanischen Republik wurden mit nur sechs Spritzen gut 5000 Menschen gegen die Schlafkrankheit behandelt. Hier dürfte sich erstmals eine Gruppe von Menschen mit HIV infiziert haben.
Hinzu kam, ausgelöst durch den wirtschaftsfördernden Einfluss der Kolonialmächte Europas, ein rasant einsetzendes Städtewachstum. Nach Brazzaville und ins heutige Kinshasa zum Beispiel wurden viele Männer als Arbeitskräfte teilweise zwangsweise umgesiedelt. Auf die negativen gesellschaftlichen Folgen konnte man warten, ja man konnte fast zusehen: der große Überschuss an ledigen Männern zog so gut wie automatisch eine rasant zunehmende Population von Prostituierten nach sich. Wenn nun einer der zunächst noch wenigen HIV-Infizierten in die Stadt zog oder zwangsumgesiedelt wurde, gab er schon beim ersten Bordellbesuch das Virus weiter. Weil nun aber bei der Behandlung der anderen sich ebenfalls schnell verbreitenden Geschlechtskrankheiten wie Syphilis dieselben nur schlecht sterilisierten Spritzen verwendet wurden, wuchs die Zahl der Infizierten weiter an. Dennoch war das alles tatsächlich immer noch nicht ausreichend: trotz allen Infektionsgeschehens war der Kreis der HIV-Infizierten wegen der schweren Übertragbarkeit von HIV gerade noch so klein genug, dass die Epidemie von selbst hätte verglimmen können.
Jetzt brauchte es eine Katastrophe, und die kam prompt: Der Kongo wurde 1960 unabhängig. Nach dem Rückzug der Kolonialmächte brach das politische System nahezu zeitgleich zusammen und es begann eine Reihe grausamer Bürgerkriege, die die noch vorhandenen Reste der kongolesischen Wirtschaft endgültig zerstörten. Innerhalb von nur zwanzig Jahren schrumpfte die Kaufkraft eines Kongolesen bis 1980 auf 7% seines Ratings von 1960. Die Arbeitslosenquote stieg auf fast 60% an. Parallel dazu explodierte die Prostitution. Eine riesige Zahl an Frauen musste jetzt aus Not ihren Körper verkaufen. Und so schnellte auch die Zahl der HIV-Infizierten im Kongo am Anfang der 1980er Jahre in die Höhe.
Um die wirtschaftliche und politische Katastrophe im Kongo zu bekämpfen, legten die Vereinten Nationen ein breites Hilfsprogramm auf. Die Republik Haiti war dabei besonders aktiv. Rund 4500 Haitianer waren damals als Entwicklungshelfer vor Ort. Einer von ihnen aber infizierte sich im Kongo mit dem noch völlig unbekannten Virus. Leider war der brave Mann ein fleißiger Blutspender, und so verbreitete sich das Virus nach seiner Rückkehr in die Heimat über Blutbanken und erreichte auf diesem Weg recht schnell die USA und sogar Europa.
Man sieht also, dass die heutige HIV-Pandemie, wie die Indizienkette zeigt, durchaus mehr als nur eine Naturkatastrophe war. Moderne Transportmittel wurden die Vektoren für die globale Verbreitung des Virus. Ohne soziale Probleme, ohne Krieg, Armut und Prostitution wäre HIV vermutlich regional beschränkt geblieben. Und die eigentlich gut gemeinten Ansätze der Kolonialmedizin des frühen Zwanzigsten Jahrhunderts haben, weil sie die potenzielle Virusverbreitung nicht berücksichtigen konnten, diese Pandemie mit hoher Wahrscheinlichkeit überhaupt erst möglich gemacht.
Das Bild ist Teil einer Serie zum Thema Pandemie: