Der Lohn gottlosen Größenwahns. Dennoch zeigen sich die bei dem Massaker beteiligten Götter und die restlichen unsterblichen Strippenzieher auf erbärmliche Weise selbstherrlich und rücksichtslos. Genau wie Menschen.
2016, Acryl auf Faserplatte, 84 x 59 cm.
31. Januar 2021
Der legendäre Tantalidenfluch, auf den fleißige Opernbesucher vielleicht schon in Form von Agamemnons Schicksal in Richard Strauss‘ Elektra oder versierte Theaterbesucher in Goethes Iphigenie auf Tauris gestoßen sind, betrifft im weiteren Sinn auch Niobe, die glückliche und durch ihr Glück und ihren Reichtum arrogant gewordene Tochter des Tantalos.1
Die Dame war mit Amphion verheiratet, der gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Zethos in Theben regierte. Wie fast überall in der griechischen Mythologie, in der es auf den ersten Blick meist kreuz und quer durcheinandergeht, gibt es auch hier eine nette Geschichte am Rande:
Ähnlich wie Ödipus wurden die beiden Brüder Amphion und Zethos kurz nach ihrer Geburt von ihrem Onkel Lykos in der Wildnis ausgesetzt, denn der wollte als amtierender König von Theben verständlicherweise keine Konkurrenz in der Erbfolge aus dem Hause seines vor kurzem in der Schlacht gefallenen Bruders Nykteus von Theben und dessen Gattin, der mehr oder weniger zufällig dahergelaufenen und soeben frisch verwitweten Antiope dulden. Lykos‘ Bruder Nykteus war aber gar nicht der Vater der Zwillinge Amphion und Zethos, denn die gute Antiope hatte ihren Mann mit dem Olympischen Göttervater Zeus höchstpersönlich betrogen, und deswegen wurden die Neugeborenen natürlich dank dessen göttlichen Wachsamkeit nicht im Stich gelassen, sondern – ebenfalls so ähnlich wie Ödipus – von Hirten gefunden und aufgezogen.
Weil der verstoßene Amphion als junger Mann eines Tages, musisch, wie er war, dem Gott Hermes (einem der Zwölf Großen Olympischen Götter) einen Altar errichtete und ihm opferte, verliebte sich der Gott in den jungen, frommen und wahrscheinlich auch schönen Amphion und nahm ihn sich als Geliebten. Das Ganze war im alten Griechenland keine allzu außergewöhnliche Sache und kam öfter vor. Der Gott jedenfalls beschenkte seinen boyfriend frischverliebt mit einer viersaitigen Lyra, die Amphion später mit eigener, kunstfertiger Bastelarbeit zu einem siebensaitigen Instrument erweiterte. Sein Zwillingsbruder Zethos dagegen war von Anfang an ein eher bodenständiger Geselle, der sich in erster Linie für Ackerbau und Viehzucht interessierte und Amphion auch gerne wegen seiner musischen Art belächelte. Gerade diese Begabung erwies sich aber später den Fähigkeiten des robusten Zwillingsbruders bei der Befestigung von Theben als weit überlegen: die wundermächtige Lyra, immerhin ja das Geschenk eines Gottes, fügte beim Bau der Stadtmauer von Theben, wenn Amphion sie spielte, die Steinquader wie von selbst zusammen, weswegen es überhaupt kein Problem darstellte, die Stadtmauer mit sieben Toren – architektonische Meisterleistungen des Altertums – auszustatten. So entstand das sagenhafte Siebentorige Theben.
Zurück zu Niobe. Die war also mit diesem Amphion, dem Ex-Liebhaber von Hermes verheiratet und hatte mit ihm vierzehn Kinder, sieben Jungs und sieben Mädel. Eigentlich könnte man ja nun meinen, dass man als Frau mit derart zahlreichem Nachwuchs ausreichend beschäftigt gewesen wäre, Königin hin oder her. Stattdessen aber entwickelte die Dame in ihrer luxuriösen Langeweile eine fixe Idee, die sie allmählich immer wütender machte. Wütend ausgerechnet auf die Stadtpatronin von Theben: Leto (lateinisch: Latona). Die war die Tochter der Titanen Koios und Phoibe. Leto war aber nicht nur eine Titanentochter, sondern sie hatte sich auch von einem entfernt verwandten Cousin (amüsanterweise schon wieder Zeus) schwängern lassen und die Kinder Apollon und Artemis (lateinisch: Apollo und Diana) zur Welt gebracht. Allein diese Geschichte ist spannend, wenn Ovid in seinen Metamorphosen davon berichtet, wie der neugeborene Apoll wenige Stunden nach seiner Geburt den einer Schlange gleichen Python in seiner Geburtshöhle auf Delphi umbringt, anschließend dort sein Heiligtum inklusive der wahrsagenden Priesterin stiftet (deswegen heißt die Dame auch Pythia) und kurz darauf seine Mutter Latona (Leto) die Lykischen Bauern in Frösche verwandelt, weil sie ihr und ihren Kindern den Zugang zum Wasser des Sees verweigern wollen. Das alles wird gern im Bayerischen Lateinunterricht übersetzt, gehört jetzt aber nicht hierher.
Niobe also missfällt die Tatsache, dass die Bewohner von Theben ihrer Stadtheiligen Leto regelmäßig Opfergaben darbringen, inbrünstig zu ihr beten und sie toll finden, obwohl sie, Niobe, doch weitaus mehr zustande gebracht hat mit ihren prächtigen vierzehnköpfigen Nachkommen als Leto mit ihrer nach Niobes Einschätzung „jämmerlichen Brut“, die aus nichts weiter bestand als aus einem einzigen Bub und einem einzigen Mädel. Und weil sie als Königin niemanden hatte, der ihr auch mal sagte „halt jetzt bitte mal dein Maul“ – ihr Mann war mit seiner Lyra beschäftigt und hing Jugenderinnerungen nach – beginnt die hysterische Dame tatsächlich in fataler Weise, vor den Augen und Ohren der Thebanischen Öffentlichkeit zu keifen und zu stänkern und Leto schlecht zu machen und die frommen Thebaner wegen derer vermeintlichen Einfalt zu beschimpfen.
So etwas kann man als Königin natürlich tun, sollte es aber doch besser sein lassen und sich lieber auf die Zunge beißen und stattdessen einen Gin Tonic trinken, wenn man gerade im Begriff ist, derart undiplomatisch nicht nur eine Göttin zu beschimpfen – und Leto als reinrassige Titanin war zum Donnerwetter eine waschechte Göttin –sondern auch noch deren Nachkommen Apollon und Artemis zu dissen, die immerhin als zwei von den zwölf griechischen Hauptgöttern bis zum heutigen Tag im Pantheon stehen.
Es kommt, wie es kommen muss: Leto beschwert sich bitter bei Zeus und weist gleichzeitig, ohne lange abzuwarten, was die Olympischen denn nun offiziell unternehmen wollen, in ihrer blindwütigen Raserei ihre Kinder an, das zu vollstrecken, was üblicherweise auf Majestätsbeleidigung steht, nämlich die Todesstrafe. Zumindest damals war das die übliche Verfahrensweise; heutzutage findet sowas nur noch in Gesellschaften von zweifelhafter moralischer Kompetenz statt. Davon gibt es ja leider auch noch genug.
Sie befiehlt ihren Kindern in unbändigem Hass und in demselben Niobischen Größenwahn, die unschuldigen Söhne und Töchter der Königin von Theben umzubringen. Und so schickt Phoïbus Apollon seine unfehlbaren Pfeile in die Brust der Söhne, und von dem Bogen der Artemis jagt der geflügelte Tod in die Herzen der Töchter. Verzweifelt fleht Niobe um Gnade und bittet wenigstens um das Leben ihrer Kleinsten, aber es gibt keine Gnade und auch die letzte Tochter stirbt in ihren Armen. Mehr noch: die rasenden Götter gestatten nicht einmal die Beisetzung der Kinderleichen. Jeder Thebaner, der das versucht, wird von Zeus in Stein verwandelt. Am zehnten Tag nach dem Massaker schließlich bestatten die Olympischen die wegen der Schuld ihrer hochmütigen Mutter unschuldig Hingerichteten.
Die überlebende Mutter in ihrer maßlosen Trauer und vollständig zerstörten Zukunft verwandeln die Götter auf dem Sipylos ebenfalls in Stein. Vielleicht sollte wenigstens das ein Akt der Gnade sein.
Versteinerte Niobe; Fels in der Türkei
(c) Carole Raddate – flickr.com/photos/carolemage/18548112254
Man kann die versteinerte Mutter in der heutigen Türkei bis heute besichtigen.2
Dieses traurige Los der Niobe und die entsetzliche, durch nichts zu entschuldigende barbarische Rache der Götter haben bereits sehr oft Anlass zu ergreifenden künstlerischen Darstellungen gegeben. Die Gruppe, die sich in Rom im Giebelfeld des Apollontempels befand und 1583 aufgefunden wurde, ist sicher die berühmteste. Sie befindet sich heute in den Uffizien in Florenz, und besteht aus Niobe, die verzweifelt ihre jüngste Tochter gerade noch lebend im Schoße hält, dem sogenannten Pädagogen, und 13 anderen männlichen und weiblichen Statuen, die aber möglicherweise nicht alle ursprünglich zur eigentlichen Gruppe gehörten. Dieses berühmte Kunstwerk wird dem Praxiteles oder dem Skopas zugeschrieben. Im Niobiden-Saal der Glyptothek in München findet sich, allerdings unvollendet, ein sterbender Niobide.
Meine Niobe auf Sipylos ist dagegen nur ein unbedeutender Farbklecks in dieser berühmten Ahnenreihe.
/1/ Zur Vorgeschichte des Tantalidenfluchs siehe auch die sehr
interessante Seite auf der Domäne iphigenie.de (Externer Link)
/2/ Bildquelle: Carole Raddate, veröffentlicht auf Flickr
https://www.flickr.com/photos/carolemage/18548112254/
(Externer Link)