E.T.A. Hoffmans Olimpia wird für Nathanael erst im Blick durch sein Perspektiv begehrenswert. Die ungefilterte Wirklichkeit entpuppt sich oft als etwas völlig anderes.

2016, Acryl auf Faserplatte, 84 x 59 cm.
Die Augen der Olimpia

„Der Sandmann“ ist eine 1816 veröffentlichte Erzählung des romantischen Autors E.T.A. Hoffmann, der eigentlich Ernst Theodor Wilhelm hieß, sich aber 1805 aus Bewunderung zu Mozart in Ernst Theodor Amadeus umbenannte. Ursprünglich erschien die Erzählung in seiner Sammlung „Nachtstücke“. Sie bietet Stoff für unterschiedliche Interpretationsansätze im Deutschunterricht der gymnasialen Oberstufe. Hoffmann schildert das Schicksal des Studenten Nathanael, der wegen seiner traumatischen Kindheitserinnerungen allmählich verrückt wird und am Ende Selbstmord begeht. Völlig ungeklärt lässt Hoffmann die Frage, ob Nathanael das Opfer eines Komplotts wurde oder tatsächlich ausschließlich dem eigenen Wahnsinn erlegen ist.

Den Beginn der Erzählung macht ein Brief, den Nathanael an Lothar, seinen Ziehbruder, verfasst. Darin berichtet der Student, dass ihn seit Kurzem große Unruhe plage, ausgelöst durch den Besuch eines Wetterglashändlers. Der Grund dafür liege in einer Begebenheit aus seiner Kindheit. Gelegentlich sei er als Kind sehr früh ins Bett geschickt worden mit der Begründung, der Sandmann sei schon auf dem Weg. In der Erzählung der Kinderfrau hätte der Sandmann nichts Gütiges oder Beruhigendes an sich gehabt. Vielmehr sei er eine monströse Gestalt gewesen, die unfolgsamen Kindern, die nicht schlafen wollten, giftigen Sand in die Augen streute, sie anschließend herausriss und an seine eigene Brut verfütterte. Als er sich, schreibt Nathanael weiter, an einem dieser Abende heimlich in seines Vaters Zimmer versteckt hätte, habe sich der „Sandmann“ als der ihm verhasste Advokat Coppelius entpuppt. Zusammen mit Nathanaels Vater habe dieser schon längere Zeit und regelmäßig alchemistische Experimente durchgeführt. Als Nathanael an diesem Abend in seinem Versteck entdeckt worden sei, habe der Anwalt ihn misshandelt und gedroht ihm die Augen zu verbrennen. Beim nächsten Besuch des Advokaten etwa ein Jahr später sei Nathanaels Vater dann ums Leben gekommen, offenbar durch eine chemische Explosion. Eben jenen Coppelius, so berichtet Nathanael in dem Brief, habe er nun in dem Wetterglashändler Coppola wiedererkannt.

Daraufhin folgt ein weiterer Brief, diesmal von Clara an Nathanael. Sie teilt ihrem Verlobten mit, er habe wohl irrtümlich den für ihren Bruder Lothar bestimmten Brief versehentlich an sie adressiert. Sie habe ihn aber dennoch gelesen und sei schließlich zu der Erkenntnis gelangt, dass Nathanael sich diese furchtbaren Kindheitserlebnisse wohl größtenteils nur eingebildet habe.

In einem dritten Brief schreibt Nathanael an Lothar und erklärt, Coppola sei wahrscheinlich doch nicht Coppelius. Sein eigener Physikprofessor Spalanzani habe ihm bestätigt, Coppola schon lange zu kennen. Außerdem stellt Nathanael seinen Besuch bei der Familie in Aussicht.

Von nun an beschreibt ein Ich-Erzähler, der sich im Text als einen Freund Nathanaels bezeichnet, den weiteren Fortgang der Geschichte. Er erzählt, wie Nathanael bei seinem Besuch zu Hause ständig von dunklen Mächten redet, die offenbar den menschlichen Geist manipulieren. Als er seiner Verlobten ein selbstverfasstes Gedicht vorträgt, welches die Zerstörung ihrer Liebe durch Coppelius beschreibt, kommt es zum Streit. Schließlich aber versöhnen sich die beiden wieder und es hat den Anschein, als sei Nathanael endgültig von seinen Ängsten befreit.

Jetzt wechselt die Erzählperspektive hin zum Ich-Erzähler Nathanael. Zurückgekehrt in seinem Studienort bekommt er Besuch von Coppola, dem er ein kleines Fernglas abkauft. Nathanael gelingt damit ein Blick auf Professor Spalanzanis Tochter Olimpia, deren Zimmer von seinem Fenster aus gut einzusehen ist. Sofort ist er von ihr tief beeindruckt. Bei einem Fest kurz darauf in Spalanzanis Haus verliebt sich Nathanael schließlich rettungslos in die schöne Olimpia. Von da an besucht er sie regelmäßig. Dieses Hin und Her der Erzählperspektiven dient Hoffman dazu, den Leser zu verwirren und ihm geglaubte Sicherheiten wieder zu entziehen. Recht geschickt gemacht, denn es geht ja im Kern um die Frage: „was ist Wirklichkeit?“

Eines Tages trifft Nathanael im Haus seines Professors auf Spalanzani und Coppola, die sich offenkundig um die Figur Olimpias streiten. Nathanael erkennt entsetzt, dass Olimpia nichts weiter als eine leblose Puppe ist, der jetzt aber die Augen fehlen. Coppola, der in der Situation vom Professor mit Coppelius angesprochen wird, empfiehlt sich schnell und Nathanael stürzt sich sofort auf Spalanzani und erwürgt ihn beinah. Die Geschichte von dem Kunstautomat, den der Physikprofessor mit der Hilfe Coppolas erschaffen und als seine Tochter ausgegeben hat, verbreitet sich in der ganzen Stadt. „Die Augen als Spiegel der Seele“ – diese Augen aber fehlen Olimpia jetzt. Als Puppe hatte sie vermutlich keine Seele, aber vielleicht haben sie stets Nathanaels Seele „gespiegelt“, immer dann, wenn er sie ansah? Steckt da ein wenig vom Krankheitsbild eines Narziss dahinter? Nathanael, unfähig, jemand anderen als sich selbst zu lieben, dem jetzt auf so brutale Art durch die Zerstörung der Augen Olimpias seine eigene Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit genommen wurde? Jedenfalls erleidet er an dieser Stelle einen psychotischen Rückfall, wird schwer krank und kommt in ein Sanatorium.

Einige Zeit später erwacht er schließlich im Kreise der Familie, offenbar von seinem Verfolgungswahn endgültig geheilt. Wieder vollends im Glück besteigen Clara und Nathanael kurze Zeit später anlässlich einer Stadtfahrt, die der Vorbereitung ihrer Hochzeit dienen soll, den städtischen Rathausturm. Als Clara ihm oben auf der Aussichtsterrasse sagt, es käme ihr so vor als würde da unten ein grauer Busch auf sie zukommen, greift Nathanael in seine Jackentasche und holt Coppolas Fernglas hervor. Ist dieses Fernglas nur ein Hilfsmittel, um die Dinge scharf und deutlich zu erkennen oder gar ein Instrument, das die Wirklichkeit verändert, vielleicht nur Nathanaels eigene Wirklichkeit? Als er hindurchblickt und Clara erblickt, wirft ihn diese neue Realität schlagartig zurück in die alten Wahnvorstellungen. Er versucht, seine Verlobte in einem erneuten, plötzlichen psychotischen Anfall von derselben Art wie damals, als er Professor Spalanzani erwürgen wollte, vom Turm zu stoßen; ihrem Bruder Lothar, der zufällig herbeigeeilt ist, gelingt es jedoch im letzten Augenblick, dem Wahnsinnigen die Schwester zu entreißen. Vor dem Turm hat sich derweil eine Menschenmenge gebildet, die emporschaut und gafft. In der Menge befindet sich auch Coppelius, den die Rangelei und das Geschrei oben auf dem Rathausturm zu belustigen scheint. Nathanael tobt schließlich allein oben auf der Galerie des Turmes, stürzt sich zuletzt in die Tiefe und fällt unter Coppelius‘ dämonischem Lachen in den Tod. Clara hat man ein paar Jahre später angeblich wieder gesehen; sie ist offenbar glücklich verheiratet und hat zwei kleine Buben, die zu ihren Füßen spielen.

Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“ thematisiert den Konflikt zwischen Vernunft und Phantasie und formuliert damit wichtige Streitfragen seiner Epoche. Die aufgeklärte Rationalität Claras steht dem gefühlsbetonten, verwirrten Wesen Nathanaels gegenüber, der so die wichtigen Motive der Romantik verkörpert. Den Leser selbst lässt der Autor dabei ständig über die Wahrheit von Traum oder Realität im Unklaren. Das immer wiederkehrende Motiv der Augen wird zum Symbol für die Verschmelzung von Realität und Phantasie.

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