abiit, non obiit – er ist weggegangen, nicht zugrundegegangen
— Marcus Tullius Cicero

2016, Acryl, Asche und Kohle auf Karton, 60 x 84 cm 
Das Land der Prinzen
Das Land der Prinzen

Tusculanae Disputationes ist ein spätes philosophisches Werk des römischen Politikers, Anwalts, Redners und Philosophen Marcus Tullius Cicero (3. Jan. 106 v.Chr. bis 7. Dez. 43 v.Chr), der im Jahr 63 v.Chr. Konsul der Römischen Republik war. Das Werk enthält fünf Bücher und entstand in der zweiten Jahreshälfte des Jahres 45 v.Chr zwei Jahre vor Ciceros gewaltsamem Tod. Bayerische Abiturienten haben irgendwann in ihren letzten vier Semestern vor den Abschlussprüfungen gelegentlich Respekt vor dem einen oder anderen daraus entnommenen Text, denn laut Lehrplan sind die Gespräche in Tusculum ein mehr oder weniger unausweichliches Thema. Die Höhe der Hürde und die Lauflänge legt aber immer der Lehrer fest.

Cicero wählt hier die Form der Diskussion für seine philosophischen Betrachtungen. In jedem Buch stellt ein anderer fiktiver Schüler eine These auf, die von einem fiktiven Lehrer (das ist dann stets in Stillschweigen vorausgesetzt Cicero selbst) schrittweise widerlegt wird. Im ersten Buch lautet die These: Der Tod scheint mir ein Übel zu sein.

Mit seinen Gesprächen in Tusculum vollendet Cicero die philosophischen Betrachtungen aus dem unmittelbar davor in nur sechs frühsommerlichen Wochen des Jahres 45 v.Chr. verfassten Werkes De finibus bonorum et malorum – auf Deutsch am treffendsten: Vom höchsten Gut und größten Übel. Zusammen bilden diese beiden Arbeiten Ciceros umfangreichstes und wichtigstes philosophisches Werk.

Die Gespräche in Tusculum fußen auf seinem Verständnis der Stoa. Nur „anständiges, ehrenvolles, tugendhaftes und ethisch einwandfreies Handeln“ führen zu Glück und Zufriedenheit. Die unteilbare, nicht aus Atomen bestehende (sic!!!) Seele ist für Cicero mehr als nur ratio, nicht nur Vernunft, sondern etwas, das vom Himmel auf die Erde gebracht wurde, damit die Menschen sich um diese Erde kümmern können, bevor die Seele zurückkehrt. Die sittliche Vollkommenheit (virtus honestum) ist für Cicero das anzustrebende Lebensziel. Seine vier Kardinaltugenden sapientia/prudentia, iustitia, fortitudo und temperantia/modestia – Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Selbstbeherrschung also – sind die Bestandteile dieser höchsten Virtus Romana und gehen letztlich auf Platons politeia (Πολιτεία „Der Staat“) und dessen Tugendlehre zurück. Demzufolge muss Glück etwas aus dem inneren Verlangen des Menschen Kommendes sein, mit dem sich sein Streben nach geistiger Zufriedenheit erfüllt. Wer in seinem Leben aber nichts erreicht hat im Sinne dieser ehrenvollen, gerechten, tapferen und gelassenen Existenz, für den hält auch der Tod nur das Un-Glück bereit.

Malum mihi videtur esse mors.
Iisne, qui mortui sunt, an iis, quibus moriendum est?
Utrisque.
Est miserum igitur, quoniam malum.
Certe.

Ein Übel scheint mir der Tod zu sein.
Für die, die gestorben sind, oder für die, die sterben müssen?
Für beide.
Er ist also ein Unglück, da er ja ein Übel ist.
Gewiss.

Ergo et ii, quibus evenit iam ut morerentur, et ii, quibus eventurum est, miseri. 

Mihi ita videtur.
Nemo ergo non miser.
Prorsus nemo.

Also sind sowohl die, die der Tod schon ereilt hat, als auch die, denen er noch bevorsteht, unglücklich. 

Mir scheint es so.
Folglich sind alle unglücklich.
Alle ohne Ausnahme.

Et quidem, si tibi constare vis, omnes quicumque nati sunt eruntve, non solum miseri, sed etiam semper miseri. nam si solos eos diceres miseros quibus moriendum esset, neminem tu quidem eorum qui viverent exciperes – moriendum est enim omnibus -, esset tamen miseriae finis in morte; quoniam autem etiam mortui miseri sunt, in miseriam nascimur sempiternam. necesse est enim miseros esse eos qui centum milibus annorum ante occiderunt, vel potius omnes, quicumque nati sunt.

Und zwar sind, wenn du folgerichtig sein willst, alle, die jemals geboren worden sind oder noch geboren werden, nicht nur unglücklich, sondern auch für alle Zeiten unglücklich. Wenn du nämlich sagtest, allein die seien unglücklich, die sterben müssen, nähmest du zwar niemanden von den Lebenden aus – denn sterben müssen alle, jedoch läge im Tod ein Ende des Unglücks; da nun aber auch die Toten unglücklich sind, werden wir zu ewigem Unglück geboren. Denn mit Notwendigkeit sind die unglücklich, die vor hunderttausend Jahren zugrunde gegangen sind, oder eigentlich sogar alle, die je geboren worden sind.

Ita prorsus existimo.

Das ist genau meine Meinung.

 

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Das Land der Prinzen
aus: Erich Schöneck, Nachtgeschichten, München (1982)

Allmählich neigte sich die späte Abendsonne dem Horizont am Ende der Straße entgegen zwischen den hohen Häuserzeilen, die jetzt durch das feuervergoldete Licht veredelt ihre alltägliche Schäbigkeit verhalten verloren hatten. In der frühsommerlichen Hitze war der Verkehr dort unten auf der Straße inzwischen fast völlig zum Erliegen gekommen, und eine klebrige Ruhe breitete sich wie ein alles besänftigender Dunst über der Stadt aus. Der kleine Junge hatte sich ganz oben in der Mansarde unterm Dach am Fenster aufgesetzt und blinzelte müde mit glasigen Augen in die letzten Sonnenstrahlen. Er war den ganzen Tag allein gewesen. Die Mutter arbeitete seit dem Tag, an dem sie den Vater hinausgetragen hatten, als Hilfskraft in einem Krankenhaus und war schon viele lange Wochen nur noch selten zuhause. Wenn sie endlich nach Hause kam, war sie immer erschöpft und wollte nur noch schlafen. Obwohl er seit gestern nichts gegessen hatte, empfand der kleine Junge keinen Hunger. Seit langem war er schon während des Tages immer genauso erschöpft gewesen wie die Mutter, wenn sie abends zu ihm kam, um ihn nach seinen endlosen einsamen Stunden in liebevoller Sorge zu Bett zu bringen. Es schien fast so, als hätte er sich die Müdigkeit von ihr abgeschaut. Am frühen Nachmittag hatte er ein paar Kissen zu sich auf die breite Fensterbank geschleppt und danach auf ihnen ausgestreckt, weil seine Mattigkeit durchdringender geworden war und er auf diese Weise still und zufrieden durch das Fenster in den Himmel träumen konnte. Jetzt gerade verschwand die Sonne hinter den Dächern und weckte von neuem wie an jedem Abend die winzigen Elfen, die im Staub auf der Fensterkante wohnten, mit ihrem letzten Licht auf. Immer wartete der kleine Junge darauf, dass diese seltsam sanften Wesen, die täglich neu aus dem Nichts entstanden, sich aus ihrer eigenen Welt aufmachten, um ihm ihre Gesellschaft anzubieten. Fast immer kamen sie dann ganz dicht an sein heißes Gesicht, präsentierten ihre eigentümlichen Tänze und erzählten ihm leise von geheimnisvollen Prinzen, die in einem fernen Land lebten, unerreichbar weit und voller namenloser Musik, einem Land, in dem alles so anders war als hier. Der kleine Junge stellte sich oft vor, wie herrlich es in diesem Land sein musste, wo die Prinzen wohnten und immer Kakao mit Sahne tranken und sich vielleicht auch mit denselben Tänzen, die in ihrer verschwenderischen Extravaganz denen der Elfen auf der Fensterkante glichen, ihre unbegrenzte Zeit vertrieben und offenbar keiner anderen Aufgabe bedurften. Jetzt konnte er eine sachte, zärtliche Melodie wahrnehmen, die ihm wie leises Meeresrauschen am Strand einer fernen, weltverlorenen Insel vorkam. Befreit atmete er aus und nahm gedankenverloren wahr, dass die Elfen heute noch zutraulicher und noch näher kamen und ihre freundlichen Blicke auf ihm versammelten, als sie ihm wie immer ihr Lied von dem wunderbaren Land der Prinzen sangen und ihm die kleinen Hände ermutigend entgegenstreckten. Er dehnte sich sanft und schloss die Augen und spürte, wie seine eigene Existenz immer leiser und leichter wurde und sich das dunkle Zimmer hinter der Fensterbank ganz vorsichtig und still von ihm entfernte als endlich alles um ihn herum behutsam in ein sanftes, pochendes Rot eintauchte.

Der Junge lag und träumte von den Prinzen.

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