Ein ungeliebtes, behindertes Kind wird nach langen Jahren der Demütigung durch seine Eltern zuletzt vom Hof geekelt und macht mit seiner eigenen, neurotischen Moral schließlich Karriere als Staatsoberhaupt.

2021, Acryl auf Verbundplatte , 62 x 58 cm
Hans mein Igel
Hans mein Igel

Ich bin vor Kurzem über das Grimm’sche Märchen „Hans mein Igel“ gestolpert. Die Geschichte ist leider recht lang. Darum kürze ich das Ganze hier mit eigenen Worten etwas ab:

Weil ein wohlhabender Großbauer ständig von den anderen Bauern wegen seiner Kinderlosigkeit gehänselt wird und er trotz seines Reichtums nichts dagegen tun kann, verflucht er schließlich seine Existenz: „Ich will ein Kind und wenn‘s verdammt nochmal ein Igel ist!“

Natürlich bringt bald darauf die arme Frau des gotteslästerlichen Großkopfs ein Baby zur Welt: oben herum bis zum Gürtel ein waschechter Igel und in den unteren Abteilungen bis zu den Zehen ein Junge. Er wird von den Eltern aus Scham jahrelang peinlich versteckt hinter dem Kachelofen in der Küche in einer Kiste aus Stroh gehalten, bis ihm der Vater eines Tages vom Markt einen Dudelsack mitbringt, den sich der kleine Hans mein Igel seit langem schon so sehr gewünscht hatte. Außerdem erhält er vom Vater, der froh ist, dass der Junge bereit ist, endlich zu verschwinden, einen mit Hufeisen beschlagenen Hahn, auf dem er reiten kann und so reist der Igel-Junge schließlich mit ein paar Schweinen und Eseln, die er hüten möchte, ab in die weiten Wälder fern von seinem Heimatdorf.

Jahre vergehen. Die gehütete Schweineherde wird immer größer. Hans mein Igel sitzt auf seinem Hahn, der mit ihm auf den höchsten Baum des Waldes geflogen ist, und sein Spiel auf dem Dudelsack ist weithin zu hören.

Ein im Wald verirrter König samt seiner Reisegesellschaft hört das Gedudel, entdeckt endlich das seltsame Gespann hoch oben auf dem Baum und fragt Hans mein Igel nach dem Weg zurück in sein eigenes Königreich. Der erwidert ihm, dass er selbstverständlich den rechten Weg weiß, ihn aber nur nennen und zeigen möchte, wenn der König ihm das Erste, was ihm zuhause entgegengelaufen kommt, als Eigentum verspricht. Der König willigt nach kurzer Überlegung ein, weil er sich denkt, ist ja nur ein Igel, der sowieso nicht verstehen kann, was ich ihm aufschreibe, und so schreibt er also in betrügerischer Absicht: „Hans mein Igel soll das Erste, was mir zuhause entgegenläuft, nicht bekommen!“

Hans mein Igel zeigt dem König den rechten Weg, dem rennt zuhause als erstes seine Tochter in die Arme und der König erzählt dem Mädchen von dem Igel mit dem Dudelsack auf dem Hahn und wie er ihn mit seinem Vertrag übers Ohr gehauen hat. Die freut sich über des Königs Hinterhältigkeit, denn sie wäre niemals mit dem Igel gegangen und so sind alle zufrieden und glücklich.

Hans mein Igel sitzt mit seinem Dudelsack und seinem Hahn weiter auf dem höchsten Baum des Waldes und spielt. Die Schweineherde vermehrt sich fleißig. Schließlich kommt ein anderer König, ebenfalls wieder gänzlich ohne Navigationssystem, der sich genau wie der erste König tief im Wald verlaufen hat und den seltsamen Musikanten um den rechten Weg zu sich nach Hause fragt. Im Grunde wiederholt sich die erste Geschichte. Dieser König aber ist keineswegs so hinterhältig und bösartig wie der erste. Er verspricht Hans mein Igel tatsächlich vertraglich das erste Geschöpf, was ihm zuhause entgegenläuft, und natürlich ist es auch diesmal wieder die Tochter. Auch der wird die Geschichte erzählt, aber dieses Mädchen ist anders als die erste Prinzessin, denn sie sagt, dass sie sich gern für den glücklich und gesund heimgekehrten Papa opfern würde, falls der Igel tatsächlich kommen und sie als sein Pfand einfordern sollte.

Bald darauf hat sich die Schweineherde derart vermehrt, dass Hans mein Igel mit der ganzen quiekenden Truppe zurück in sein Dorf zieht. Der Vater ist davon wenig begeistert, denn er hatte gehofft, dass der Junge längst tot ist. Die zahlreichen Schweine werden schnell auf alle Höfe verteilt und geschlachtet, der reiche Bauer wird noch reicher und alle loben und feiern ihn, weil er der ganzen Dorfgemeinschaft diese prächtigen, wohlschmeckenden Schlachtschweine besorgt hat. Über die Esel wird (obwohl sie eine gute Salami abgegeben hätten) kein Wort mehr verloren – ebenso wenig wie über irgendeine Form von Respekt oder Anerkennung des Vaters für seinen Sohn, der sich ja immerhin als überaus erfolgreicher Schweinezüchter präsentiert hat und trotzdem kein einziges freundliches Wort vom Vater bekommt.

Hans mein Igel lässt sich zutiefst geknickt vom Vater den Hahn nochmals beschlagen und verspricht, nun endlich auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Das freut den Vater sichtlich sehr. Über die Mutter erfährt man auch nichts mehr. Entweder ist sie tot oder sie hat den alten Kotzbrocken sitzen gelassen und ist gegangen.

Die Reise auf dem frischbeschlagenen Hahn führt den unglücklichen Hans nun zunächst ins erste Königreich, wo der hinterhältige König wohnt. Der hatte inzwischen seinen Soldaten und Wachen befohlen, Hans mein Igel zu töten, wenn er auftauchen sollte und unter allen Umständen zu verhindern, dass er ins Schloss gelangt. Hans aber überfliegt mit seinem Hahn kurzerhand die schieß- und stechwütigen Soldaten, schafft es auf diese Weise unversehrt ins Schloss und zwingt den König ohne großes Präludium und weitere Umschweife, ihm die Tochter auszuliefern. Wenn das nicht umgehend geschehe , werde er sie beide auf der Stelle umbringen. Der König opfert bei diesen trüben Aussichten schnell und bereitwillig seinen Nachwuchs, der sich daraufhin überaus widerwillig ein Brautkleid überzieht, schließlich mit viel Geld, Gold, Schmuck und so weiter ziemlich schlecht gelaunt in eine prächtige Kutsche gesetzt wird und gemeinsam mit Hans mein Igel davonfährt. Der König ist derweil froh, dass er seine Tochter nie mehr wiedersehen muss. Eine saubere Familie.

Es kommt aber anders. Nur wenige Kilometer später lässt Hans mein Igel die Kutsche anhalten, zieht das ebenso hinterhältige wie missgelaunte Fräulein Prinzessin nackt aus, vergewaltigt sie (wieder ohne großes Präludium) und sticht sie dabei mit seinen Stacheln über und über blutig. Nachdem er mit ihr fertig ist, teilt er ihr formlos mit, dass er nichts mehr von ihr will, jagt sie nackt und blutend und mittellos zum Gespött der schadenfrohen Bevölkerung wieder nach Hause zu ihrem niederträchtigen Erzeuger und verschwindet mit Kutsche, Geld, Gold, Schmuck und so weiter.

Sogleich macht er sich auf zum zweiten Königreich. Dort ist ja auch noch eine Rechnung offen. Im Gegensatz zu seiner ersten Erfahrung wird Hans mein Igel hier aber trotz des wunderlichen Aussehens willkommen geheißen, der König empfängt ihn recht pompös mit seinem Hofstaat und auch die Prinzessin ist – na ja, nicht gleich bewusstlos vor Glück, aber sie fügt sich freundlich in ihr Schicksal – sie ist, sagen wir mal: erfreut, ihn zu sehen. Es wird nicht lange gefackelt, erst gibt’s ein tolles Mittagessen, dann wird geheiratet und als es Abend wird und die Hochzeitsnacht immer näher rückt, da wird dem Mädel dann doch ein wenig mulmig, denn sie hat natürlich ein paar berechtigte Bedenken wegen der vielen Stacheln angesichts der bevorstehenden hochzeitsnächtlichen Umtriebe. Aber Hans mein Igel kann sie beruhigen. Er bestellt vier Diener zu sich und seiner Braut ins Schlafgemach und lässt den Kamin kräftig anfeuern. Außerdem gibt er den strammen Burschen genaue Anweisungen: er würde gleich seine Igelhaut ausziehen, bevor er zu der Prinzessin ins Bett steigen werde. Dann müssten die Vier schnell die vor dem Bett liegende Haut ergreifen und sofort ins Feuer werfen und daneben stehen bleiben und aufpassen, dass sie auch wirklich restlos verbrennt.

So geschieht es. Von der Igelhaut ist bald nur noch ein Häufchen Asche übrig, aber die Haut von Hans im Bett ist jetzt kohlschwarz versengt. Der König und sein Arzt kommen, als hätten sie gelauscht, schnell herbeigelaufen und schauen neugierig nach dem Rechten. Wahrscheinlich denken sie: wenn da schon vier andere Kerle im Schlafzimmer zuschauen, ist es sowieso egal und dann können wir zwei uns auch noch daneben stellen und glotzen. Der Arzt schmiert schließlich, nachdem alle Anwesenden die delikate Angelegenheit ausgiebig besichtigt haben, den ganzen Hans von oben bis unten mit seiner Heilsalbe ein, dessen Haut heilt wundersam in Windeseile und wird wieder weiß und am Ende ist alles gut. Hans bekommt das Königreich vom guten König, die Tochter sowieso und später fährt er sogar noch zu seinem Vater und gibt sich als dessen Sohn zu erkennen. Diesmal ist der reiche Bauer hocherfreut – schließlich hat Hans keine Behinderung mehr und stattdessen Geld, Gold und reichlich Prestige. Der Vater ist sogar derart begeistert, dass es ihm nicht zu blöd ist, auf einmal so zu tun, als wäre nie etwas gewesen und er mit seinem Sohn ins neue Königreich ins Schloss übersiedelt.

Heute verstehe ich, wieso dieses Märchen in meinem Kindermärchenbuch damals nicht zu finden war. Der Verlag wollte den Müttern gewiss die Peinlichkeit ersparen danach gefragt zu werden, wie Igel eigentlich Babys machen.

Das Grimm’sche Märchen „Hans mein Igel“ im Volltext zum Beispiel auf grimmstories.com (Externer Link)

Übersichtsseite Werke →

24 Replies

  1. Wow, diese Geschichte hatte ich noch nie gehört, was für ein interessantes Märchen! Und das Werk interpretiert das Bild des halben Jungen / halben Igels wirklich gut.

  2. Great job. It’s really interesting, I was reading on and on and was we wishing it won’t finish. Very educative and you choose your lines brilliantly.

  3. Wir alle sollten dankbar sein für das, was wir haben. Denken Sie daran, dass einige Menschen immer noch für diesen Ort und Besitz beten, den wir haben. Seien Sie nie wie dieser Bauer, der sich selbst verflucht hat, schätzen Sie immer, was Sie beim Beten haben, und hoffen Sie auf das, was wir immer noch nicht haben. Ich liebe diesen Beitrag.

  4. Es ist in jeder Hinsicht eine fesselnde Geschichte. Die Moral hier ist, dass man auf niemanden herabschauen sollte, da niemand weiß, was die Zukunft bringt.

  5. Du hast es geschafft, die Story gut zu kürzen und trotzdem alle wichtigen Details einzufangen. P.S. Das Bild ist klasse.

  6. Es ist ein schönes Märchen, es muss für Kinder plötzlich ziemlich verwirrend sein, sich einen Igeljungen in seiner Hochzeitsnacht vorzustellen, aber ich finde die Geschichte sehr interessant, dass ich sie meinen Kindern erzählen kann.

  7. Dies ist – abgesehen von Sonic 😉 – das erste Mal, dass ich von einem Igel als Helden höre. Gute Lektüre; ein bisschen lang vielleicht, aber eine echte gelungene Illustration zum Bild.

  8. What a beautiful right up. It’s great knowing the reason why tales like this should not be found in children’s fairy tale.

  9. wow very interesting story!!. I wish it was in my academics textbook. instead of giving useless story , This type of story should be added which gives some moral.

  10. Ich muss sagen, das ist eine gute Geschichte, aber ein bisschen zu viel für ein Kind. Es ist jedoch anders als die normalen Geschichten und es hat mir gefallen.

  11. Die plakative Malweise in Verbindung mit den intensiven Farben ist eine gelungene Illustration für die wilde Geschichte hinter (oder zum?) Bild.

  12. Das Bild ist genauso ungeheuerlich und bedrohlich, wie das Fabelwesen der Geschichte. Ein wirklich wildes Märchen, das die Gebrüder da aufgeschrieben haben.

  13. Ich mag Ihren neuen Malstil sehr, auch die kräftigen, leuchtenden Farben. Nicht so düster wie die Arbeiten zu den Seuchen.

  14. Liebe die Geschichte und das Gemälde. Die Pinselstriche sind ausdrucksstark. Ich kann mir gut vorstellen, die Story in einer Film- oder Fernsehadaption zu sehen.

  15. Gute und umfassende Beschreibung, die die Handlung direkt auf den Punkt bringt. Ich sehe das Bild danach mit anderen Augen und entdecke immer mehr Elemente der Geschichte darin.

  16. In meiner Märchensammlung, die noch aus den 20ern des letzten Jahrhunderts stammt, in deutscher Schrift geschrieben und mit Jugenstilbildern illustriert ist, ist Hans, mein Igel dabei. Ich weiß noch, als mein Vater das Märchen vorgelesen hat, fand ich es weitaus weniger gruselig als Erwachsene heute. Ein Igel, der auf einem Hahn auf einem Baum im Wald Dudelsack spielt, fand ich sogar sehr witzig. Und dass ein wortbrüchiger König und seine Tochter bestraft und wundgepiekst werden, war in meiner Kinderwelt auch völlig in Ordnung. Das eigentliche Drama, dass der arme Hans trotz aller Bemühungen und Leistungen immer und immer wieder vom eigenen Vater abgelehnt wird, habe ich als Kind nicht so drastisch empfunden, am Schluss war ja schließlich alles gut. Nur war ich in der glücklichen Lage, vom eigenen Vater sehr geliebt zu werden, das mag bei Kindern, die nicht dieses Glück haben, dann ganz anders wahrgenommen werden.
    Dieses Märchen mit diesem Bild jetzt zu bringen, finde ich genial. Noch nie habe ich in meinem inzwischen auch schon über 60jährigem Leben auf der einen Seite eine solche Intoleranz und eine solche Aggression anderen Menschen gegenüber erlebt, die einem nicht ins eigene Weltbild passen. Auf der anderen Seite wird oft zwanghaft versucht, sprachlich jede Form von Diskriminierung zu vermeiden, dass es manchmal schon ans Lächerliche grenzt. Ich denke, für beide Seiten sollte gelten, mal ein paar Schritte zurückzutreten, die Emotionen ruhen zu lassen und wieder mehr Sachlichkeit in die Diskussion zu bringen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert