„#metoo“ war schon immer ein Thema.

The Rape Of Lucrece, ein Versepos von William Shakespeare aus dem Jahr 1594, greift einen alten Stoff aus Titus Livius‘ Ab Urbe Condita auf. Shakespeare lässt Lukretia in den Versen 631ff zu dem feigen Tarquinius, dem letzten König Roms, sagen:

Think but how vile a spectacle it were,
To view thy present trespass in another.
Men’s faults do seldom to themselves appear;
Their own transgressions partially they smother:
This guilt would seem death-worthy in thy brother.
O, how are they wrapp’d in with infamies
That from their own misdeeds askance their eyes!

2019, Acryl und Gouache auf Holz, 60 x 120 cm.
The Follower

Titus Livius war während der Kaiserzeit des Augustus der berühmteste Historiker und mit seinem großangelegten Geschichtswerk „Ab Urbe Condita“ einer der wichtigsten Autoren Roms. Er beschreibt in seinem prinzipiell streng annalistisch aufgebauten Werk systematisch und chronologisch die Geschichte Roms von Anfang an „beginnend mit der Gründung der Stadt“ bis in seine eigene Gegenwart. Trotz dieser Chronologie im Großen illustriert er einzelne Geschehnisse im Kleinen immer szenisch, verwendet zur Steigerung der Spannung die wörtliche Rede und baut Situationen dramatisch auf – so wie ein Tragödiendichter es tun würde.

Die Vergewaltigung der Lukrezia und deren tragischer Tod ist solch eine höchst dramatisch angelegte Szene. Angehende Abiturienten verzweifeln regelmäßig an Livius‘ Satzbau und seiner Art, in Kernszenen die übliche Erzählgrammatik zu verlassen und stattdessen das Geschehen überfallsartig in schneller Folge von mosaikartig angelegten Wortbildern zu schildern. Das macht Livius im Bayerischen Abitur durchaus zum Angstgegner und soweit ich weiß, lassen die meisten anderen Bundesländer daher in den Abiturprüfungen auch lieber die Finger von diesem schwierig zu übersetzenden Autor.

Wir sind mit dieser Geschichte in der ersten Phase Roms, genauer: am Ende der seit Romulus‘ Grundsteinlegung herrschenden Königszeit, die der Überlieferung nach von 753 v. Chr. („sieben-fünf-drei: Rom kroch aus dem Ei“) bis ins Jahr 510 v. Chr. dauerte, als der Etrusker Tarquinius Superbus als sechster und letzter König nach Romulus mit Schimpf und Schande aus der Stadt gejagt wurde und die größte und bedeutendste Zeit Roms begann – sie wurde zur Republik. Dieser Sextus Tarquinius ist es, der Lukrezia voller Scheinheiligkeit vergewaltigt, Lukrezia, die treue und liebende Ehefrau des Collatinus, die sich daraufhin für das an ihr ungewollt und gewaltsam Geschehene selbst tötet und damit – zumindest für ihre Zeit – eine ganze Portion mehr an moralischer Kompetenz zu beweisen scheint als jeder andere, der nichts weiter tut als bequem und auch gern erst Jahrzehnte später in den modernen Chor der #MeToo-Verkünder einzufallen.

TITVS LIVIVS
AB VRBE CONDITA
LIBER PRIMVS
finis regni

(LVIII) Paucis interiectis diebus Sex. Tarquinius inscio Collatino cum comite uno Collatiam venit. Ubi exceptus benigne ab ignaris consilii cum post cenam in hospitale cubiculum deductus esset, amore ardens, postquam satis tuta circa sopitique omnes videbantur, stricto gladio ad dormientem Lucretiam venit sinistraque manu mulieris pectore oppresso “Tace, Lucretia” inquit; “Sextus Tarquinius sum; ferrum in manu est; moriere, si emiseris vocem.” Cum pavida ex somno mulier nullam opem, prope mortem imminentem videret, tum Tarquinius fateri amorem, orare, miscere precibus minas, versare in omnes partes muliebrem animum. Ubi obstinatam videbat et ne mortis quidem metu inclinari, addit ad metum dedecus: cum mortua iugulatum servum nudum positurum ait, ut in sordido adulterio necata dicatur. Quo terrore cum vicisset obstinatam pudicitiam velut vi victrix libido, profectusque inde Tarquinius ferox expugnato decore muliebri esset, Lucretia maesta tanto malo nuntium Romam eundem ad patrem Ardeamque ad virum mittit, ut cum singulis fidelibus amicis veniant; ita facto maturatoque opus esse; rem atrocem incidisse. Sp. Lucretius cum P. Valerio Volesi filio, Collatinus cum L. Iunio Bruto venit, cum quo forte Romam rediens ab nuntio uxoris erat conventus. Lucretiam sedentem maestam in cubiculo inveniunt. Adventu suorum lacrimae obortae, quaerentique viro “Satin salve?” “Minime” inquit; “quid enim salvi est mulieri amissa pudicitia? Vestigia viri alieni, Collatine, in lecto sunt tuo; ceterum corpus est tantum violatum, animus insons; mors testis erit. Sed date dexteras fidemque haud impune adultero fore. Sextus est Tarquinius qui hostis pro hospite priore nocte vi armatus mihi sibique, si vos viri estis, pestiferum hinc abstulit gaudium.” Dant ordine omnes fidem; consolantur aegram animi avertendo noxam ab coacta in auctorem delicti: mentem peccare, non corpus, et unde consilium afuerit culpam abesse. “Vos” inquit “videritis quid illi debeatur: ego me etsi peccato absolvo, supplicio non libero; nec ulla deinde impudica Lucretiae exemplo vivet.” Cultrum, quem sub veste abditum habebat, eum in corde defigit, prolapsaque in volnus moribunda cecidit. Conclamant vir paterque.

(Kap. 58) Wenige Tage später kam Sextus Tarquinius ohne Wissen des Collatinus mit einem einzigen Begleiter nach Collatia. Nachdem er dort von denen, die nichts von seinem Plan wussten, wohlwollend aufgenommen und er ins Gästeschlafzimmer geführt worden war, alles in der Gegend ausreichend sicher und alle eingeschlafen zu sein schienen, kam er in Liebe entbrannt mit gezücktem Schwert zur schlafenden Lucretia, drückte mit seiner Linken den Oberkörper der Frau nieder und sagte: „Schweig, Lucretia, ich bin Sextus Tarquinius; ein Schwert ist in meiner Hand; du wirst sterben, wenn du einen Laut von dir gibst.“ Als die Frau erschreckt aus dem Schlaf hochfahrend keine Hilfe und den ihr drohenden Tod vor sich sah, gestand Tarquinius ihr seine Liebe, flehte sie an, mischte Drohungen in seine Bitten und versucht die Frau mit allen Mitteln für sich zu gewinnen. Sobald er sah, dass sie standhaft blieb, und dass sie nicht einmal durch die Furcht vor dem Tod ins Wanken geriet, fügt er zu ihrer Furcht noch Schande hinzu: Neben die Tote werde er einen nackten ermordeten Sklaven legen, damit man sagen werde, sie sei bei einem schändlichen Ehebruch erwischt und getötet worden. Als durch diesen Schrecken die siegreiche sexuelle Gier die hartnäckige Keuschheit mit Gewalt besiegt hatte und danach der wilde Tarquinius nach der Eroberung weiblicher Ehre wieder gegangen war, schickte Lucretia, traurig über das so große Unrecht, denselben Boten nach Rom zu ihrem Mann und nach Ardea zu ihrem Vater. Jeder solle mit einem treuen Freund kommen; in dieser Lage sei es nötig, schnell zu handeln; es sei etwas Schreckliches passiert. Spurius Lucretius kam mit Publius Valerius, einem Sohn des Volesius, Collatinus kam mit Lucius Iunius Brutus, mit dem er zufällig nach Rom zurückkehrte und von dem Boten der Gattin getroffen worden war. Sie fanden die traurige Lucretia im Schlafzimmer sitzend.
Nach der Ankunft der Verwandten brachen ihre Tränen hervor und sie sagte zu ihrem Ehemann, der fragte: „Geht es dir gut?“ „Überhaupt nicht, wie kann es einer Frau gutgehen, die ihre Keuschheit verloren hat? Die Spuren eines fremden Mannes, Collatinus, sind in deinem Bett; im Übrigen aber: nur der Körper ist verletzt, der Geist ist unschuldig; der Tod wird mein Zeuge sein. Aber gebt mir eure rechte Hand darauf und das Versprechen, dass der Ehebrecher nicht straflos ausgehen wird. Es ist Sextus Tarquinius, der als Feind statt als Gastfreund in der letzten Nacht mit Gewalt bewaffnet, die Freude genommen hat, die mir und ihm, wenn ihr Männer seid, Verderben bringt.“
Sie geben der Reihe nach alle ihr Versprechen und trösten die im Herzen verwundete Frau, indem sie die Schuld von der Vergewaltigten auf den Urheber des Verbrechens schieben: nur der Geist sündige, nicht der Körper und wo ein Plan fehle, sei auch keine Schuld vorhanden. Sie entgegnete: „Ihr werdet euch schon darum kümmern, welche Konsequenz die Schandtat von dem Kerl verlangt: Aber auch wenn ich mich von der Sünde freispreche, befreie ich mich dennoch nicht von der Strafe, denn keine unkeusche Frau soll später unter Berufung auf das Beispiel der Lucretia weiterleben können.“ Sie stößt sich den Dolch, den sie unter ihrem Gewand versteckt hat, ins Herz, sinkt vornüber in ihre Wunde und fällt sterbend zu Boden. Vater und Ehemann schreien laut auf.

Die Geschichte geht wortreich und dramatisch weiter: die Sache wird öffentlich gemacht, das Volk erhebt sich in Massenprotesten und jagt den Vergewaltiger samt seiner ganzen Familie zum Teufel, und am Ende des Kapitels wird Livius wieder ganz zum seriösen Berichterstatter:

L. Tarquinius Superbus regnavit annos quinque et viginti. Regnatum Romae ab condita urbe ad liberatam annos ducentos quadraginta quattuor. Duo consules inde comitiis centuriatis a praefecto urbis ex commentariis Servii Tulli creati sunt, L. Iunius Brutus et L. Tarquinius Collatinus.

Lucius Tarquinius der Hochmütige hat fünfundzwanzig Jahre regiert. Rom wurde seit Erbauung der Stadt bis zu ihrer Befreiung zweihundertvierundvierzig Jahre lang von Königen regiert. Dann wurden nach der schriftlichen Verordnung des Servius Tullius vom Bürgermeister der Stadt auf einer nach Zenturien aufgestellten Wahlversammlung zwei Konsuln gewählt, Lucius Junius Brutus und Lucius Tarquinius Collatinus.

Titus Livius, Ab Urbe Condita, Erstes Buch, auf The Latin Libary (Externer Link)

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