Die Entstehungsgeschichte von Goethes Faust-Dichtungen reicht von der um 1775 begonnenen Niederschrift des sogenannten Urfaust bis in den Januar 1832, als der alte Goethe seine letzten Veränderungen am Manuskript zu Faust II zu Papier bringt.

Was passiert eigentlich in dieser Geschichte um diesen Dr. Faust, an deren Niederschrift der Dichter tatsächlich fast sechzig Jahre gearbeitet hat?

2021, Acryl und Gouache auf Spanplatte, 59 x 84 cm
Osterspaziergang
Osterspaziergang

4. April 2021 – Ostersonntag

In Goethes Faust – Der Tragödie Erstem Teil macht sich ein älterer Herr, der bis dato stets seriös aufgetreten war und es durchaus zu hohem gesellschaftlichen Ansehen gebracht hatte, auf offener Straße ungeniert an ein junges – an ein eigentlich sogar viel zu junges Mädchen heran, nachdem er zuvor mit Hilfe finsterer Mächte eine Verjüngungskur erhalten hat. Dieses brave Kind ohne jede Lebenserfahrung, bislang sehr häuslich, fromm und wohlbehütet, eine Halbwaise dazu und von der umsichtig-strengen Mutter vollständig in die familiäre Hauswirtschaft eingebunden, wird auf einmal mit kostbarem Schmuck überhäuft, hinter dem jener Herr von der Straße steckt. Der stellt ihr mit diesen teuren Geschenken und gleichzeitig billigen, aber überaus erfolgreichen Komplimenten hartnäckig nach, solange bis er das naive Mädchen plattgequatscht und weichgekocht hat, führt mit einer Überdosis Schlafmittel den Tod der wachsamen Mutter herbei, macht dem armen Ding im Rahmen eines One-Night-Stand ein Kind und ersticht anschließend noch ihren Bruder, der als letzter Beschützer des dummen Mädels hätte herhalten können.

Nach alldem verzieht sich der saubere Herr ziemlich unverblümt und bleibt länger als ein Jahr spurlos verschwunden, währenddessen er sich mit seinem zwielichtigen Kumpel auf ebenso zwielichtigen Partys herumtreibt. Als ihm dann zuletzt doch noch seine im Stich gelassene minderjährige Geliebte wieder in den Sinn kommt, hat die Unglückliche leider schon aus Verzweiflung und Angst vor gesellschaftlicher Ächtung ihr soeben heimlich zur Welt gebrachtes Kind umgebracht, ist dabei erwischt worden, sitzt aktuell im Gefängnis und wartet auf ihre Hinrichtung. Damals wurden derartige Verfehlungen ziemlich streng geahndet, und mildernde Umstände wegen Minderjährigkeit und außergewöhnlicher psychischer Probleme oder gar irgendwelche verständnisvollen sozialpädagogischen Experimente in karibischen Inselcamps waren noch nicht vorgesehen. Da kommt doch tatsächlich der ehemalige Liebhaber zu ihr in die Zelle und behauptet, er könne sie mithilfe seines immer noch zwielichtigen Kumpels aus der ganzen prekären Situation herausschmuggeln. Sie aber findet den salbadernden Herrn Doktor mittlerweile nur noch zum Kotzen, weil ihr bewusst geworden ist, dass er sie in ihrer zutraulichen Verliebtheit in ekelhafter Weise lediglich ausgenutzt und auf die schiefe Bahn gebracht hat. So ein Leben will sie nicht mehr führen. Als ihm schließlich, nachdem die beiden eine Zeitlang aneinander vorbeigeredet haben, klar wird, dass sie von ihm sowieso nichts mehr wissen will, verlässt er sie ohne erkennbare Gewissensnot ein zweites Mal. Das Mädel wird hingerichtet und eine himmlische Stimme aus dem Off widerspricht versöhnend der Offensichtlichkeit: nicht „gerichtet“, sondern „gerettet“ worden ist das gute Gretchen. Man muss Katholik sein, um das zu verstehen.

Der feine Herr hatte sich mit dem Teufel verbündet; er ist nämlich ein alter, überstudierter und vom Leben frustrierter, ständig unzufriedener Geisterbeschwörer und Alchemist, der sich von dem Bund mit dem Teufel mehr Lebensgenuss und Lebensintensität verspricht. Dafür ist er bereit, alles aufzugeben. Deshalb auch hat ihn dieser sogenannte dienstbare Geist wieder körperlich verjüngt, weil das bei dem alten Knaben sicherer ist als mit ständigen hochdosierten Viagra-Gaben einen schnellen Herzinfarkt zu riskieren, aber vor allem hat er ihn auf junge Mädchen scharf gemacht. Dem alten Herrn ist all das in seiner ganzen Tragweite übrigens durchaus bewusst, denn er ist überdurchschnittlich intelligent und vollumfänglich im Besitz seiner geistigen Kräfte, als er die Affäre mit seinem unschuldigen Opfer beginnt. Keine mildernden Umstände also.

Derselbe vornehme und gebildete Herr vergisst in Der Tragödie Zweitem Teil diese für die gutgläubige Margarete tragisch ausgegangene Affäre erstaunlich schnell und reist dann mit seinem bereits aus dem Ersten Teil hinlänglich bekannten Kumpel, der jetzt elegant-euphemistisch als dienstbarer Gefährte bezeichnet wird, erneut von einer wüsten Party zur nächsten. Dort legt er mit faulem Zauber reihenweise hochgestellte Persönlichkeiten herein, beteiligt sich an der Produktion von Falschgeld, trägt zum Ruin ganzer bisher bestens funktionierender Volkswirtschaften bei, schaltet sich aus rein egoistischen Motiven in Kriegshandlungen ein, lässt sich seine Beteiligung in Form von Küstenland auszahlen und die dortige Urbevölkerung ausrotten und gründet schließlich überaus erfolgreich ein auf Handel und Piraterie basierendes Imperium.

Wie es weitergeht? Das ist schnell erzählt: er stirbt und kommt in den Himmel! Wie bitte? Wie geht denn das? Weil er sich immer angestrengt hat! In Goethes Originalton klingt das im Chor der Engel so:

Wer immer strebend sich bemüht,
Den können wir erlösen.

Faust II, Vers 11936 f.

Coole Botschaft, oder?

Was hat das nun alles mit dem Osterspaziergang zu tun? Eine ganze Menge, denn hier beginnt einfach alles, was das Kerngeschehen in und um Faust ausmacht, und hier sehen wir deutlich, wie schnell es doch gehen kann, eine „edle Seele“ zu verführen, wenn auch nur ein Quäntchen Unzufriedenheit oder Frustration im Spiel ist und gleichzeitig die perfide Aussicht besteht, endlich den langersehnten Sechser im Lotto mit Superzahl und Goldkante zu ziehen. Das ist heutzutage leider keineswegs anders, wie die als „Maskenaffäre“ bekanntgewordene schmierig-widerliche Arabeske entlang der planlosen politischen Irrwege in dem kläglich vermasselten Versuch deutsch-föderaler Pandemiebewältigung in meisterlicher Virtuosität beweist.

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
durch des Frühlings holden, belebenden Blick.
Im Tale grünet Hoffnungsglück.
Der alte Winter in seiner Schwäche
zog sich in rauhe Berge zurück.
Von dorther sendet er, fliehend, nur
ohnmächtige Schauer körnigen Eises
in Streifen über die grünende Flur.
Aber die Sonne duldet kein Weißes.
Überall regt sich Bildung und Streben,
alles will sie mit Farbe beleben.
Doch an Blumen fehlts im Revier.
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.
Kehre dich um, von diesen Höhen
nach der Stadt zurückzusehen!
Aus dem hohlen, finstern Tor
dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn,
denn sie sind selber auferstanden.
Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
aus Handwerks- und Gewerbesbanden,
aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
aus der Straßen quetschender Enge,
aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
sind sie alle ans Licht gebracht.
Sieh nur, sieh, wie behend sich die Menge
durch die Gärten und Felder zerschlägt,
wie der Fluss in Breit und Länge
so manchen lustigen Nachen bewegt,
und, bis zum Sinken überladen,
entfernt sich dieser letzte Kahn.
Selbst von des Berges ferner Pfaden
blinken uns farbige Kleider an.
Ich höre schon des Dorfs Getümmel.
Hier ist des Volkes wahrer Himmel.
Zufrieden jauchzet groß und klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein!

Faust I, Szene 2 „Vor dem Tor“, Monolog des Faust, Vers 903-940

Am Ostermorgen wird Faust, der sich in der Nacht davor noch im muffigen Ambiente seines Studierzimmers hoffnungslos deprimiert und in auswegloser Situation befindlich umbringen wollte, in der Verheißung des neu erwachenden Lebens beim Osterspaziergang mit seinem Schüler Wagner klar, dass Leben nicht nur Wissen und Gewissheit, sondern auch Gefühl und Hoffnung bedeutet. Neidisch konstatiert er die Zufriedenheit der einfachen Menschen um ihn herum in der fröhlichen Verheißung der aus winterlicher Erstarrung erwachten Natur. Goethe benutzt dieses typisch romantische Naturerlebnis an der Stelle als wenig subtile Metapher auf die Errettung der Menschen durch das Leiden, Sterben und die anschließende Auferstehung des Herrn, indem er sie hier auch als das befreiende Wiedererwachen der Lebensgeister Fausts installiert.

Im weiteren Dialog mit Wagner über die Fortschritte der Wissenschaft resümiert Faust in dieser Szene die Krisis seiner Existenz: er ist an die Verlockungen und Sehnsüchte der irdischen Welt gebunden und hat gleichzeitig die Vision, den Kerker des menschlichen Daseins zu überwinden, um in höhere metaphysische Sphären vorzudringen.

Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,
Die eine will sich von der andern trennen;
Die eine hält, in derber Liebeslust,
Sich an die Welt mit klammernden Organen;
Die andere hebt gewaltsam sich vom Dust
Zu den Gefilden hoher Ahnen.

Faust I, Vers 1112 – 1117

Der ewige Zwiespalt zwischen Freude und Erkenntniskrise wird in dieser Szene eindrucksvoll thematisiert. Folgerichtig kommt Faust daher auch an dieser Stelle zum ersten Mal mit dem teuflischen Mephisto in Kontakt. Denn unversehens taucht während des Spaziergangs in der Nähe ein Pudel auf, der großes Interesse an den Spaziergängern zu haben scheint und sich offenbar nicht abschütteln lassen will, Faust und seinem Schüler schließlich verdächtig zutraulich bis ins Haus und Faust weiter ins Studierzimmer folgt und der sich dort nach einigem Getue als der Teufel zu erkennen gibt.

Das ist nicht eines Hundes Gestalt!
Welch ein Gespenst bracht ich ins Haus!
Schon sieht er wie ein Nilpferd aus …

(Das Tier nimmt menschliche Gestalt an und Mephisto
tritt im Kostüm eines fahrenden Scholaren hervor.
Darauf reagiert Faust mit dem überraschten Ausruf:)

Das also war des Pudels Kern.

Faust I, Vers 1320 – 1323

Faust erwartet nun sein persönliches Aufklärungswunder und beschwört schließlich die Hilfe der Geisterwelt. Das Spiel von Gut und Böse, die Verführung des Menschen und der Beginn des Prozesses, in dessen Verlauf Faust ganz persönlich schuldig wird, nimmt hier seinen Anfang. Und ganz gewiss auch hier: keine mildernden Umstände zugelassen, Osterfreude hin oder her!

Mein „Osterspaziergang“ – Herr Dr. Heinrich Faust, Frau Marthe Schwerdtlein, Jungfer Margarete, genannt Gretchen und Seine Dunkle Eminenz Mephistopheles in der Sommerfrische beim Posieren für den Standfotografen – hat übrigens so nie stattgefunden. Eigentlich schade. Wahrscheinlich wäre die Geschichte dann nicht derart tragisch ausgegangen: die ständig auf Männersuche befindliche hormongeschüttelte Frau Marthe hätte sich den alten, verklemmten Heinrich geschnappt und ihm im Handumdrehen gezeigt, wo der Frosch die Locken hat und die Kirchenglocken läuten. Mephisto hätte nach einer Handvoll schlapper bösewichtiger Versuche ziemlich schnell frustriert festgestellt, dass er bei dem frommen Gretchen garantiert keinen Stich macht und die fromme Margarete wäre nicht als Kindsmörderin, sondern ehrbar gestorben. Schlimmstenfalls nach einem langen, bigotten Leben und als alte Jungfer…

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