Rilkes schmerzhafter Kampf mit sich selbst um seiner Mutter Willen: sein zerrissenes Mutterbild.

2021, Acryl und Öl auf Faserplatte, 84 x 59 cm
Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein
Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein

Muttertag

Rainer Maria Rilke, zweifellos einer der größten deutschsprachigen Dichter, hat nahezu sein ganzes Leben lang mit der Person der Mutter gehadert und seinen Kummer immer wieder zu Papier gebracht. Sophie Rilke hat auch sehr wahrscheinlich alles, was ihr René von ihrer Person und zu ihr aufgeschrieben hatte, nach seinem frühen Tod gelesen. Sie überlebte den Sohn um knapp fünf Jahre. Mag sein, dass seine Verse ihr am Ende geholfen haben zu verstehen, was kaum zu verstehen war, weshalb es immer schon ihr ganzes langes Leben hindurch viel zu wenige Bezugspunkte zwischen ihr und dem so fremd gebliebenen Sohn gegeben hatte, ein ganzes langes Leben, das vermutlich nicht besonders glücklich war, und das ständig von zwanghafter Verdrängung des eigenen Unglücks und tiefer, rettungsloser Traurigkeit geprägt war.

Sophie war das Kind einer hochangesehenen Prager Fabrikanten- und Kaufmannsfamilie. Ihr Vater war Kaiserlicher Geheimrat und auch finanziell war alles zum Besten bestellt. Nach ihrer überstürzten Heirat musste Sophie schnell feststellen, dass dieser Weg ein Irrtum gewesen war. Ihrem Mann Josef Rilke gelang trotz glänzender Anfänge der Aufstieg über eine militärische Laufbahn in die feinen Gesellschaftskreise nicht, und das tragischer weise nicht einmal aus eigenem Verschulden. Zunächst hatte noch alles nach einer erfolgreichen Zukunft ausgesehen: Josef war mit Hilfe der schwiegerväterlichen Beziehungen recht bald zum Kommandanten des Kastells von Brescia ernannt worden und alles schien auf eine prächtige Karriere hinauszulaufen. Dann aber erkrankte er plötzlich an einem Halsleiden und konnte seinen Beruf als Stabsoffizier der Österreichisch-Ungarischen Monarchie nicht mehr länger ausüben, musste seinen Abschied nehmen und sich ohne großes finanzielles Polster mit einer eher untergeordneten Beamtenstelle bei der Prager Eisenbahngesellschaft bescheiden. Nach nur 11 Jahren Ehe trennte sich Sophie schließlich 1884 von einem Mann, der ihren Ansprüchen längst nicht mehr genügte und zog mit ihrem kleinen Sohn René nach Wien, um dort dem kaiserlichen Hof nahe zu sein. Auch das hatte ihr Vater arrangiert. Vermutlich pflegte Rainer Maria Rilke deswegen später ebenfalls seine Kontakte zu den vornehmsten Adelsgeschlechtern Europas stets planvoll und mit großer Sorgfalt.

Erst nach langen Anstrengungen gelang es dem Zweiundzwanzigjährigen dann endlich um 1897, sich von seiner Vergangenheit zu lösen und vieles Zwanghafte, das er von seiner Mutter auferlegt bekommen hatte, abzuschütteln. Von da an nannte er sich auch Rainer und nicht mehr René. Die bigotte Religiosität seiner Mutter, über die er zwar viel von der Bibel und gewiss auch viel Wertvolles für sein Leben und sein Schaffen gelernt hatte, dürfte schließlich dazu geführt haben, sich von ihr abzugrenzen, um daraufhin nur um so energischer und umfassend nach dem Göttlichen in sich selbst suchen zu können. Seine zahlreichen Gedichte, die um Engel und Gott kreisen, bezeugen das eindrucksvoll.

Tatsächlich war Rilkes Mutterbild unrettbar zerrissen, letztlich ebenso wie Rilke selbst. Die vier folgenden Zitate aus seiner Feder sollen das verdeutlichen. Am 14. Oktober 1915 schreibt er:

Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein.
Da hab ich Stein auf Stein zu mir gelegt,
und stand schon wie ein kleines Haus, um das sich groß der Tag bewegt, sogar allein.
Nun kommt die Mutter, kommt und reißt mich ein.
Sie reißt mich ein, indem sie kommt und schaut.
Sie sieht es nicht, daß einer baut.
Sie geht mir mitten durch die Wand von Stein.
Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein.
Die Vögel fliegen leichter um mich her.
Die fremden Hunde wissen: das ist der.
Nur einzig meine Mutter kennt es nicht,
mein langsam mehr gewordenes Gesicht.
Von ihr zu mir war nie ein warmer Wind.
Sie lebt nicht dorten, wo die Lüfte sind.
Sie liegt in einem hohen Herz-Verschlag
und Christus kommt und wäscht sie jeden Tag.

Obwohl er so oft von der Mutter enttäuscht wurde und sich immer von ihr unverstanden fühlte, stand Rilke allem Weiblichen keineswegs ablehnend gegenüber. Zwar scheiterte später seine eigene Ehe genauso wie die seiner Eltern, er blieb aber trotzdem seiner Frau ein ganzes Leben lang verbunden. Ein wirklich besonderes Verhältnis hatte er aber bis zu seinem Tod zu der vierzehn Jahre älteren und von ihm seit 1897 heiß geliebten Frau, die in der damaligen feinen Gesellschaft des adeligen Europas geradezu ein Fixstern war: die russisch-deutsche Essayistin und Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé. Mit der Liebe zu dieser Frau und ihrer für ihn personifizierten Mütterlichkeit hat Rilke sich bis zu seinem Tod auseinandergesetzt. Das mag durchaus ein Verweis auf die Notwendigkeit sein, zu begreifen, wie sehr sich auch in der Mütterlichkeit zwei Seiten des Weiblichen spiegeln. In Rilkes Brief aus Rom an Lou Andreas-Salomé vom April 1904 lesen wir zunächst von einer dunklen Seite der mütterlichen Weiblichkeit:

„Meine Mutter kam nach Rom und ist noch hier. Ich sehe sie nur selten, aber – Du weißt es – jede Begegnung mit ihr ist eine Art Rückfall! Wenn ich diese verlorene, unwirkliche, mit nichts zusammenhängende Frau, die nicht alt werden kann, sehen muss, dann fühle ich, wie ich schon als Kind von ihr fortgestrebt habe, und fürchte tief in mir, dass ich, nach Jahren und Jahren Laufens und Gehens, immer noch nicht fern genug von ihr bin, dass ich innerlich irgendwo noch Bewegungen habe, die die andere Hälfte ihrer verkümmerten Gebärden sind, Stücke von Erinnerungen, die sie zerschlagen in sich herumträgt; dann graut mir vor ihrer zerstreuten Frömmigkeit, vor ihrem eigensinnigen Glauben, vor allem diesem Verzerrten und Entstellten, daran sie sich gehängt hat, selber leer wie ein Kleid, gespenstisch und schrecklich. Und dass ich doch ihr Kind bin.“

Bei aller Enttäuschung trägt Rilke aber auch die unbedingte, archetypische Liebe des Kindes zu seiner Mutter in sich. Nur wenige Tage nach seinem deprimierenden Brief an Lou Andreas-Salomé beginnt er die Arbeit an seinem Roman in Tagebuchform „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge.“ Das schließlich erst einige Jahre später in Paris um 1910 vollendete Werk bleibt Rilkes einziger Roman. Die helle Seite der mütterlichen Weiblichkeit lernen wir nun in den Worten kennen, die Rilke seinen Malte in dessen Aufzeichnungen niederschreiben lässt – und natürlich ist eine große Portion Sehnsucht aus Rilkes eigener Biografie in diesen Zeilen zu finden:

„Maman kam nie in der Nacht -, oder doch, einmal kam sie. Ich hatte geschrien und geschrien, und Mademoiselle war gekommen und Sieversen, die Haushälterin, und Georg, der Kutscher; aber das hatte nichts genutzt. Und da hatten sie endlich den Wagen nach den Eltern geschickt, die auf einem großen Balle waren, ich glaube, beim Kronprinzen. Und auf einmal hörte ich ihn hereinfahren in den Hof, und ich wurde still, saß und sah nach der Tür. Und da rauschte es ein wenig in den anderen Zimmern, und Maman kam herein in der großen Hofrobe, die sie gar nicht in acht nahm, und lief beinah und ließ ihren weißen Pelz hinter sich fallen und nahm mich in die bloßen Arme. Und ich befühlte, erstaunt und entzückt wie nie, ihr Haar und ihr kleines gepflegtes Gesicht und die kalten Steine an ihren Ohren und die Seite am Rand ihrer Schultern, die nach Blumen dufteten. Und wir blieben so und weinten zärtlich und küßten uns, bis wir fühlten, daß der Vater da war und daß wir uns trennen mußten. „Was für ein Unsinn, uns zu rufen“, sagte er ins Zimmer hinein, ohne mich anzusehen.“

Natürlich wird es auch heute noch zu meinem großen Bedauern Kinder geben, die niemals wirklich von ihren Eltern angeschaut und erkannt worden sind. Aber die Sehnsucht nach dieser Geborgenheit lebt dennoch in jedem Menschen und ist für mich ein durchaus schöner und nachhaltiger Gedanke für einen Muttertag.

Rilke hat sein stillstes Geheimnis, das ebenso das Geheimnis jedes anderen Menschen sein darf, in diese Worte gelegt:

Ich sehne oft nach einer Mutter mich,
nach einer stillen Frau mit weißen Scheiteln.
In ihrer Liebe blühte erst mein Ich;
sie könnte jenen wilden Hass vereiteln,
der eisig sich in meine Seele schlich.
Dann säßen wir wohl beieinander dicht,
ein Feuer surrte leise im Kamine.
Ich lauschte, was die liebe Lippe spricht,
und Frieden schwebte ob der Teeterrine
so wie ein Falter um das Lampenlicht.

Rainer Maria Rilke: Advent. (Leipzig, 1898)

Artikel von Ulrich von Bülow zur
„Brieffolge von Rainer Maria Rilke an Lou Andreas-Salomé“
auf der Webseite der Kulturstiftung der Länder: 
https://www.kulturstiftung.de/lou-liebe-lou/

Gedichte von 1910 bis 1922
von Rainer Maria Rilke
auf der Webseite „Die Deutsche Gedichtebibliothek“
https://gedichte.xbib.de/gedichtband_Gedichte+von+1910+bis+1922_Rilke,32,0.htm

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